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Medizinprodukte

SKANDAL!

Es geht um Herzschrittmacher, die unkontrolliert Stromschläge auslösen, um künstliche Hüftgelenke, die sich im Körper zersetzen und um Brustimplantate aus billigem Industriesilikon. Wie kann das passieren?

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Medizinprodukte sind neben Arzneimitteln eine zweite wichtige Schiene zur Behandlung von Menschen. Im Unterschied zu Arzneimitteln, die zum Beispiel pharmakologisch oder immunologisch wirken, haben Medizinprodukte nur einen physikalischen Effekt. So können Augentropfen, die lediglich das Auge befeuchten oder Hustensäfte, die nur die gereizte Schleimhaut abdecken und schützen, Medizinprodukte sein. Aber auch Verbandstoffe und Krankenpflegeartikel zählen dazu.

Aber um die geht es hier nicht, sondern um eine besonders risikoreiche Gruppe von Medizinprodukten, die Implantate. Also Produkte, die dauerhaft in den Körper eingesetzt werden, wie künstliche Gelenke und Insulinpumpen. Sie sind ein Segen für erkrankte Menschen, können Leben retten, aber auch gewaltigen Schaden anrichten, wenn sie nicht richtig funktionieren. Trotzdem werden sie längst nicht so streng kontrolliert wie Arzneimittel.

Wie gefährlich sind Medizinprodukte?Je nach Gefährdungspotenzial werden Medizinprodukte in verschiedene Klassen eingeteilt. Klasse I, wozu beispielsweise Kompressionsstrümpfe und die meisten Verbandmittel gehören, hat ein geringes Gefährdungspotenzial. Die Unterklasse I s umfasst sterile Produkte, die Unterklasse I m Produkte mit Messfunktion. Klasse II a gilt für Produkte mit mittlerem Risikopotenzial. Dazu gehören zum Beispiel Einmalspritzen, Kontaktlinsen und Zahnkronen. Klasse II b umfasst Produkte mit erhöhtem Risikopotenzial, wie Beatmungsgeräte und Blutbeutel, aber auch Kondome. Die Klasse III ist für Produkte mit einem besonders hohen Gefährdungspotenzial vorgesehen.

Dies sind Herzkatheter, künstliche Gelenke, Stents, resorbierbares chirurgisches Nahtmaterial, Intrauterinpessare und Brustimplantate. Bei Medizinprodukten der Klasse I kann der Hersteller in eigener Verantwortung erklären, dass die Produkte den Anforderungen entsprechen und welche Normen beachtet wurden. Bei Klasse II und III muss eine von der EU benannte Konformitätsbewertungsstelle beauftragt werden. Sie führt die Bewertungsverfahren durch. Das Medizinprodukt erhält dann ein CE-Kennzeichen mit vierstelliger Kennnummer.

Was sind die „Implant Files“? Ein weltweites Recherchenetzwerk, an dem 60 Medien, darunter in Deutschland NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung, beteiligt waren, hat sich die Kontrolle und das Fehlermanagement von Medizinprodukten, insbesondere von Implantaten, also Klasse-III-Medizinprodukten, angesehen und ihre Ergebnisse unter dem Namen „Implant Files“ veröffentlicht. Demnach werden Medizinprodukte nicht ausreichend kontrolliert und Probleme werden nicht systematisch erfasst. Das System sei „manipulierbar, fehlerhaft und verantwortlich für ungezählte Tote“.

In Deutschland seien im vergangenen Jahr mehr als 14 000 Fälle gemeldet worden, bei denen es zu Verletzungen, Todesfällen oder anderen Problemen gekommen sei, die im Zusammenhang mit Medizinprodukten stehen könnten, steht in den „Implant Files“. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) berichtete 2016 von 12 000 Fällen. So wichtig die Ersatzteile für eine immer älter werdende Gesellschaft sind, umso gefährlicher ist es, wenn sie schlampig entwickelt und nachlässig kontrolliert werden, denn dann gelangen minderwertige Produkte in den Körper. Und das scheint der Fall zu sein.

Medizinprodukte mit einem besonders hohen Gefährdungspotenzial sollten so sicher sein wie Arzneimittel. Dazu müssen sie aber auch so geprüft werden wie Arzneimittel.

Wer prüft denn da? Die vom BfArM benannten Stellen sind europaweit rund 50 private Anbieter, in Deutschland TÜV oder Dekra. Sie sind nicht unabhängig, sondern werden vom Hersteller beauftragt und bezahlt. Die Produkte selbst müssen häufig gar nicht untersucht werden, viele Anträge werden nur auf dem Papier, also anhand der eingereichten Unterlagen, geprüft. Abgelehnte Unterlagen können bei einer anderen Prüfstelle erneut eingereicht werden. Die gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) sehen ein grundsätzliches Problem. „Bei Medizinprodukten kommen Scheininnovationen oder sogar schädliche Produkte viel zu leicht in die Versorgung.

Es gibt keine sicheren Regeln und Vorgaben, die das verhindern“, kritisiert Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes. Wenn Reklamationen dem Hersteller gemeldet werden, beispielsweise von einer Klinik, und der Hersteller darauf nicht reagiert, kann sich das BfArM einschalten. Es kann aber nur eine Empfehlung aussprechen, wie vorzugehen ist, es kann nichts verbieten oder anordnen. Das können nur die Landesbehörden, die aber häufig gar nicht reagieren. Laut einer Statistik des BfArM bleiben knapp 50 Prozent aller von Hochrisiko-Produkten verursachten Komplikationen ohne Folge.

Das System hat sich offenbar so nicht bewährt. Dass es so lange besteht, hängt damit zusammen, dass das BfArM bei Problemen mit einem Medizinprodukt keinen Gesamtüberblick hat. Außerdem ist die Lobby der Hersteller groß. Strengere Regeln bedeuten höhere Kosten und längere Fristen. Auch die privaten Prüfstellen haben daran kein Interesse, denn durch eine staatliche Kontrolle der Medizinprodukte wie bei Arzneimitteln würden sie ihr gewinnbringendes Geschäftsmodell verlieren.

Wie reagiert die Politik? Aus dem Bundesgesundheitsministerium hieß es, man nehme diese Berichte sehr ernst. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) möchte die Situation ändern. SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach wirft CDU und FDP vor, in den vergangenen Jahren schärfere Auflagen für Implantate – insbesondere gründlichere Prüfungen vor der Freigabe – verhindert zu haben. „Als Argument wurde immer wieder ins Feld geführt, das schade dem Innovationsstandort Deutschland, weil viele Implantate-Hersteller hier sitzen.“

Was genau soll geschehen? Dem Gesundheitsministerium zufolge wird eine industrieunabhängige Stelle aufgebaut, bei der alle verbauten Implantate gemeldet werden müssen. Außerdem plant der Bund seit längerem ein staatliches Register, um die Qualität von Brustimplantaten, Herzklappen und Herzschrittmachern zu ermitteln. Das Register soll zeigen, wie lange Implantate halten – anhand von Daten zu Implantationen und Folge-Operationen für Korrekturen, die Kliniken, Krankenkassen und Hersteller verpflichtend liefern sollen.

Führen soll die neue Stelle das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (Dimdi). Ab Mai 2020 muss auch eine neue Europäische Medizinprodukte-Verordnung umgesetzt werden. Darin gelten unter anderem höhere Anforderung an die Zertifizierungsstellen. Hochrisikoprodukte müssen bei der klinischen Bewertung von internationalen Experten beurteilt werden.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 01/19 ab Seite 52.

Sabine Breuer, Apothekerin/Chefredaktion

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