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Antidote

PFLANZENGIFT UND LEBENSRETTER

Bereits der Verzehr von drei bis fünf Tollkirschen kann für Kinder tödlich sein und dennoch schafft das darin enthaltene Alkaloid Atropin Leben zu retten. Wie passt das zusammen?

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Atropin ist ein giftiges Tropan-Alkaloid, das in verschiedenen Teilen von Nachtschattengewächsen wie Engelstrompete (Brugmansia spp.), Stechapfel (Datura stramonium), Bilsenkraut (Hyoscyamus niger) und als Hauptalkaloid in der Tollkirsche (Atropa belladonna) vorkommt. Die pupillenerweiternde Wirkung von Tollkirschextrakten war schon im Mittelalter bekannt und verlieh der Pflanze den schönen Namen Atropa belladonna. Große Pupillen als Zeichen sexueller Erregung ließen Frauen für Männer anziehender und schöner wirken, sodass der Saft der Tollkirsche von ihnen bewusst eingesetzt wurde. Auch heute noch wird Atropin in der Ophthalmologie (Augenheilkunde) verwendet.

Beispielsweise wird es zu diagnostischen Zwecken als Mydriatikum zur Pupillenerweiterung eingesetzt oder bei einer Irisentzündung oder -verletzung, um die Akkomodation am Auge auszuschalten und Iris sowie Ziliarkörper ruhig zu stellen. Unter Akkomodation wird in der Optik die Anpassung der Brechkraft der Augenlinse an die Entfernung des jeweils fixierten Objekts durch Änderung des Krümmungsradius bezeichnet. Neben der Ophthalmologie ist jedoch das medizinische Haupteinsatzgebiet von Atropin die Notfallmedizin. Hier wird es zum Beispiel bei der Akutversorgung eines Patienten mit Kreislaufstillstand oder als Antidot bei Vergiftungen mit Insektiziden des Organophosphattyps verwendet.

Insektizide Schädlingsbekämpfungsmittel werden im häuslichen Garten und vor allem in der Landwirtschaft eingesetzt. Leider wird durch unzureichende Kenntnis die von ihnen ausgehende Gefahr unterschätzt. Besonders gefährlich sind Insektizide, die chemisch zu den Estern der Phosphorsäure, Phosphonsäure oder Dithiophosphorsäure gehören. Sie wirken gegen Insekten und Warmblüter äußerst toxisch, zeigen jedoch keine Giftwirkung gegen Pflanzen, sind also nicht phytotoxisch. Sie werden im Pflanzenschutz als Insektizide (gegen Insekten) und Akarizide (gegen Milben und Zecken) verwendet. Besonders charakteristisch ist ihr unangenehmer, meist knoblauchartiger Geruch. Die farbigen Flüssigkeiten oder festen Verbindungen zeigen eine hohe Lipophilie und besitzen oftmals einen hohen Dampfdruck.

Sie gehören zu den Kontaktinsektiziden, was sie außerordentlich gefährlich macht. Die Giftaufnahme kann über Schleimhäute beim Einatmen (Respirationstrakt), durch Verschlucken (Gastrointestinaltrakt) oder bei Hautkontakt erfolgen. Allein schon beim Anmischen, Versprühen oder Verdampfen, beziehungsweise während der gesamten Verwendung, aber auch beim unsachgemäßem Gebrauch können sich Anwender toxischen Mengen aussetzen, die dann zu schwersten Vergiftungen führen. Auch während des industriellen Herstellungsprozesses sind hohe Sicherheitsbedingungen einzuhalten.

Möglich ist auch, dass die Bevölkerung durch kontaminierte Nahrung ubiquitär in Kontakt kommen kann. Denn weltweit wird die Giftigkeit dieser Substanzklasse sehr unterschiedlich beurteilt. Während Chlorpyrifos heute noch in der EU zugelassen ist, zählen Phoxim, Dichlor- vos (DDVP), Fenthion, Parathion (E 605) und seine Methyl- und Ethyl-​Derivate sowie Tetraethylpyrophosphat zu Stoffen, die größtenteils in Europa, Österreich, der Schweiz und den USA keine Zulassung mehr haben, jedoch in Indonesien oder in Ländern Südamerikas oder Asiens noch verwendet werden. Organophosphate finden auch als Kampfgase (Sarin oder Tabun) eine weitere, menschenverachtende Anwendungsmöglichkeit.

Intoxikation Charakteristisch für die Vergiftung sind der Knoblauch- oder Lauchgeruch der Ausatemluft und eine blaue Verfärbung des Speichels und der Schleimhäute, vor allem im Mund. In der Klinik wird zur Diagnostik die Acetylcholin-Esterase-Aktivität in den Erythrozyten bestimmt, deren Aktivität proportional zum Grad der Vergiftung sinkt. Die irreversible Hemmung der Acetylcholin-Esterase führt zu einem starken Konzentrationsanstieg von Acetylcholin im synaptischen Spalt von muscarinergen und nikotinischen Acetylcholin-Rezeptoren.

Die lebensbedrohliche Parasympathikus-​Aktivierung führt zu Symptomen des cholinergen Syndroms mit Bradykardie, Miosis, stark erhöhtem Speichelfluss, Diarrhoe, abdominellen Schmerzen, Stuhl- und Urinabgängen. Aus der Überstimulation von Nikotin-Rezeptoren resultieren typische Muskelzuckungen, die später in Lähmungen übergehen und zur peripheren neuromuskulären Atemlähmung führen können. Ruhelosigkeit, Angst, Ataxie, Tremor bis hin zum Koma gehören zur charakteristischen ZNS-Symptomatik, wobei die Hauptgefahr neben der peripheren die zentrale Atemlähmung ist.

Notfalltherapie Für Ersthelfer sowie behandelnde Ärzte und Pflegepersonal hat der Eigenschutz mit Handschuhen und Atemmaske oberste Priorität. Eine Mund-zu-Mund- sowie die Mund-zu-Nase-Beatmung und der direkte Kontakt mit Körperflüssigkeiten muss vermieden werden. Das Entfernen der kontaminierten Kleidung des Patienten sowie das Abwaschen mit Wasser und Seife der kontaminierten Haut, kann eine weitere Resorption des Giftes reduzieren. Natürlich gehört das Sichern der Vitalfunktionen auch hier zu den wichtigsten Erstmaßnahmen.

Antidottherapie Die Atropingabe soll, verständlicherweise, so schnell wie möglich erfolgen. Atropin besetzt so als kompetitiver Antagonist die Muskarin-Rezeptoren und mindert damit die Acetylcholinwirkung. Patienten mit leichteren Symptomen und ohne Ateminsuffizienz, Koma oder zerebralen Krampfanfällen werden, unter strenger Überwachung der Herzfrequenz, zwischen zwei und zehn Milligramm Atropin intravenös als Bolus verabreicht. Unter Bolus versteht man eine Medikamentengabe innerhalb eines kurzen Zeitintervalls, um schnell einen hohen Wirkspiegel beziehungsweise ein schnelles Anfluten zu erreichen.

Im Falle einer schweren Vergiftung mit einhergehender Bewusstlosigkeit werden initial zwei Milligramm Atropin intravenös verabreicht und die Dosis alle fünf Minuten bis zur maximalen Dosis von 50 Milligramm verdoppelt. Die Antidotwirkung kann gut am Rückgang der Hypersalivation (vermehrter Speichelfluss) und der tracheobronchialen Sekretion erkannt werden. Diese Atropin-Infusion muss bis zur Neubildung der Acetylcholin-Esterase erfolgen. Dazu wird eine Dauerinfusion mit einer Konzentration von ein bis vier Milligramm Atropin pro Stunde durchgeführt.

Eine „Überatropinisierung“ sollte unbedingt vermieden werden, denn ebenso gilt für Atropin, dass die „Dosis das Gift macht“. Werden toxische Mengen von Atropin oral aufgenommen oder zu hohe Konzentrationen durch die intravenöse Gabe erreicht, wirkt Atropin als nichtselektiver, nichtkompetitiver Muskarin-Rezeptor-Antagonist selbst toxisch. Zusätzlich ist eine allgemeine, symptomatische Intensivtherapie mit künstlicher Beatmung und der Gabe von Benzodiazepinen gegen die zerebralen Krämpfe in den meisten Fällen notwendig.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 11/19 ab Seite 140.

Bärbel Meißner, Apothekerin

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