© LittleBee80 / iStock / Getty Images Plus
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Krankheiten im Kindesalter

NICHT EINEN TROPFEN

Wenn die Mutter während der Schwangerschaft Alkohol trinkt, kann das für das Kind schwerwiegende Folgen haben. Sie werden unter dem Begriff Fetale Alkohol-Spektrum-Störungen (FASD) zusammengefasst.

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Alkohol im Blut der Mutter kann die Plazentaschranke zum sich entwickelnden Kind ungehindert passieren – es ist damit derselben Alkoholkonzentration ausgesetzt wie der Körper der Mutter. Dazu kommt: Während der Alkohol im Kreislauf der Mutter durch die Leber vergleichsweise rasch wieder abgebaut wird, ist die Leber des Fötus in der ersten Schwangerschaftshälfte dazu noch gar nicht richtig in der Lage – das ungeborene Kind ist der schädlichen Wirkung des Alkohols also länger ausgesetzt.

Mehrfach toxisch Alkohol greift die Zellen über verschiedene Mechanismen an: Als Zellgift hemmt er die Mitose und damit die Zellteilung, er stört den Transport von Aminosäuren zum Fötus, die dieser zum Aufbau seiner Proteine braucht und er hemmt die Proteinbiosynthese. Darüber hinaus wirkt Alkohol neurotoxisch. Je nachdem, wann die Mutter während der Schwangerschaft Alkohol trinkt, und welche Entwicklungen im ungeborenen Kind gerade ablaufen, kann dies sehr unterschiedliche Auswirkungen haben. So kann Alkoholkonsum während der Organogenese zu Beginn der Schwangerschaft zu Organmissbildungen führen; häufig treten dann Fehlbildungen am Skelett, Herzfehler und deformierte Extremitäten auf.

Das Nervensystem ist während der gesamten Schwangerschaft gegenüber Alkohol empfindlich. Hier können Schäden zu geistigen Behinderungen und Entwicklungs- und Wachstumsstörungen führen. Selbst wenn dies nicht der Fall ist, sind die neurologischen Auswirkungen doch vielfach schwerwiegend (s. u.). Zudem sind Kinder mit Alkohol-bedingten Störungen bereits während der Entwicklung im Mutterleib und auch später oft zu klein und zu leicht für ihr Alter. Schließlich zeigen manche betroffenen Kinder auffällige Gesichtsmerkmale, darunter eine kurze Lidspalte, ein verstrichenes Philtrum (vertikale Rinne zwischen Nase und Oberlippe) und eine schmale Oberlippe.

10 000 Kinder jedes Jahr Dass der Konsum von Alkohol in der Schwangerschaft zu einer Schädigung des Kindes führt, ist eine vergleichsweise junge Erkenntnis. Der Zusammenhang wurde erstmals von französischen Ärzten in den 1950er und 1960er Jahren systematisch untersucht und veröffentlicht. Doch erst nachdem amerikanische Wissenschaftler in den 1970er Jahren ähnliche Ergebnisse in einer englischsprachigen Fachzeitschrift veröffentlicht hatten, nahm die internationale Fachwelt davon Kenntnis. Heute werden Schwangere weltweit vor dem Konsum von Alkohol gewarnt. Da es keinen bekannten Grenzwert gibt, unterhalb dessen kein Risiko für das Kind besteht, lautet die klare Empfehlung, während Schwangerschaft und Stillzeit vollständig darauf zu verzichten. Doch nicht alle Schwangeren nehmen diese Warnungen ernst beziehungsweise schaffen es, sich daran zu halten. Manche Frauen bemerken ihre Schwangerschaft auch schlicht erst einige Wochen nach der Empfängnis.

Die eine oder andere vertraut vielleicht auch auf ihr Glück, denn bei weitem nicht bei allen Kindern führt der Alkoholkonsum der Mutter zu Schädigungen. Gemäß einer Schätzung der Drogenbeauftragten der Bundesregierung kommen allein in Deutschland aber jedes Jahr rund 10 000 Kinder mit alkoholbedingten Schädigungen zur Welt. Diese sind damit die häufigsten nicht genetisch-bedingten kindlichen Fehlbildungen. Je nachdem, welche Störungen beim individuell Betroffenen im Vordergrund stehen, werden verschiedene Formen von fetalen Alkoholspektrumstörungen unterschieden:

  • Das Vollbild des fetalen Alkoholsyndroms ist gekennzeichnet durch Wachstumsstörungen plus typische Auffälligkeiten im Gesicht plus Schäden des zentralen Nervensystems. Es tritt bei etwa 1000 bis 2000 Kindern auf.
  • Von einem partiellen fetalen Alkoholsyndrom (pFAS) sprechen Fachleute, wenn keine Wachstumsstörungen vorliegen.
  • Wenn ausschließlich Störungen des zentralen Nervensystems vorliegen, wird der Begriff ARND (alkoholbedingte entwicklungsneurologische Störung) verwendet. Diese können genauso schwerwiegend sein wie bei einem FAS.

Störungen der Exekutivfunktionen Durch die neurologischen Schädigungen sind bei Kindern mit FASD besonders die Exekutivfunktionen beeinträchtigt. Darunter versteht man alle Prozesse, die für die Planung von Handlungen notwendig sind: Das fängt beim Setzen von Zielen an (bei kleinen Kindern beispielsweise eine Sandburg bauen, später Hausaufgaben oder einen Schulabschluss machen) und geht weiter mit dem Entwickeln von Strategien, wie man diese erreichen möchte und wie man mit möglichen Hindernissen umgeht. Auf dem Weg zum Ziel müssen sodann normalerweise Impulse kontrolliert werden (beispielsweise dran- bleiben, obwohl man im Moment am liebsten etwas anderes tun würde), und es ist wichtig, sich selbst zu beobachten und bei Bedarf zu korrigieren.

All dies fällt Menschen mit FASD schwer. Darüberhinaus haben Alkohol-​geschädigte Kinder oft Probleme im Sozialverhalten und zeigen Auffälligkeiten wie Hyperaktivität und ADHS, aber auch Distanzlosigkeit und Aggressivität. Sie können Handlungsketten oft nicht verstehen und dementsprechend kaum aus Erfahrung lernen. Oft fehlt ihnen ein Gefahrenbewusstsein für sich und andere; nicht selten sind sie leicht manipulierbar. Fast unweigerlich ergeben sich aus diesen Eigenschaften Probleme im sozialen Umfeld. Dies wiederum kann zu sekundären Störungen wie Depressionen, Drogen- und Alkoholkonsum und zum Beispiel Abbruch der Schule führen.

Therapie Es ist davon auszugehen, dass FASD bei weitem nicht immer diagnostiziert werden, insbesondere wenn körperliche Auffälligkeiten fehlen. Dies wäre jedoch wichtig, da mithilfe von gezielten therapeutischen Maßnahmen vielen Schwierigkeiten, die die betroffenen Kinder im Alltag haben, entgegengewirkt werden kann. Viele Kinder mit FASD leben in Pflegefamilien. Sie benötigen ein hohes Maß an Stabilität und Kontinuität in ihrem persönlichen Umfeld und Tagesablauf. Auch das erweiterte Umfeld, also etwa auch Kindergartenpersonal und Lehrer, sollte gut über die speziellen Beeinträchtigungen Bescheid wissen, um auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen zu können. Zu den Therapien, von denen Betroffene profitieren können, gehören unter anderem Frühförderung, Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie und Hippotherapie. Eine medikamentöse Behandlung für FASD gibt es nicht. Es können aber Medikamente gegen Hyperaktivität oder Antipsychotika eingesetzt werden, die sich in der Therapie von Aggressivität oder Impulsivität als wirksam erwiesen haben.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 05/2020 ab Seite 32.

Dr. rer. nat. Anne Benckendorff, Medizinjournalistin

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