© yuriyzhuravov / fotolia.com

Repetitorium

NEURODERMITIS – TEIL 1

Es ist eine belastende und sehr beratungsintensive Erkrankung. Dieses Repetitorium bietet Wissen rund um die Krankheit sowie Tipps, wie die Apotheke Patienten und Eltern von betroffenen Kindern helfen kann.

Seite 1/1 8 Minuten

Seite 1/1 8 Minuten

Zum aus der Haut fahren – was viele Menschen als Redensart benutzen, um Wut und Ärger zu bekunden, möchten Neurodermitiker im akuten Schub lieber sofort wortwörtlich umsetzen. Schließlich handelt es sich bei der Neurodermitis, von Medizinern eher Atopische Dermatitis oder Atopisches Ekzem genannt, um eine chronisch-entzündliche Hauterkrankung, bei der schubweise Ekzeme auftreten.

Die Betroffenen leiden unter einer sehr trockenen Haut, die immer wieder gerötete, raue, trockene oder nässende, verkrustete und schuppende Herde aufweist. Insbesondere der hartnäckige Juckreiz, der zu starker Kratzneigung führt, bringt viele Erkrankte „zur Weißglut“. Dies stellt für die Betroffenen und deren Familien oft eine große Belastung dar und kann zu psychosozialen Komplikationen führen.

Epidemiologie und Verlauf In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Neurodermitiker stark angestiegen. Derzeit ist etwa jedes fünfte Kind im Alter von einem bis zwei Jahren betroffen, Jungen etwas häufiger als Mädchen. Bei etwa 70 Prozent wächst sich die Erkrankung noch vor der Einschulung aus, bei weiteren zehn bis zwanzig Prozent bis zur Pubertät. Doch der Rest nimmt die chronisch-entzündliche Hauterkrankung ins Erwachsenenalter mit, was bedeutet, dass immerhin noch 1,5 bis 3 Prozent der Erwachsenen betroffen sind. Ein Krankheitsbeginn beziehungsweise -wiederbeginn im Erwachsenenalter ist möglich, aber selten.

Die Atopische Dermatitis ist eine chronische, typischerweise in Schüben verlaufende Erkrankung, mit Besserungen im Frühjahr und Sommer, obwohl dies die Pollensaison ist, und Verschlechterungen in der kalten Jahreszeit.

Das Erscheinungsbild der Erkrankung ändert sich im Lauf des Lebens: Bei Säuglingen und Kleinkindern unter zwei Jahren treten die Läsionen meist an Gesicht, Kopfhaut und den Außenseiten der Extremitäten auf, während der Windelbereich typischerweise ausgespart bleibt. Bei Säuglingen sind Rötung sowie Milchschorf, also gelbliche Krusten auf dem behaarten Kopf (Krusten erinnern an Milch, die beim Überkochen auf dem Herd angetrocknet ist) sowie nässende Ekzeme an den Streckseiten häufig zu finden. Diese Hautveränderungen können einige Monate bis zu etwa zwei Jahren bestehen bleiben, dann spontan abheilen oder auch in etwas veränderter Form fortdauern.

Bei Kindern im Alter von zwei bis zwölf Jahren sind eher trockene Ekzeme vorzufinden, die neben Gesicht, Hals und Nacken, vor allem auch Arm- und Kniebeugen sowie Hand- und Fußrücken befallen. Die übrige Haut ist auffallend trocken, manchmal diffus gerötet und fein schuppend. Als Folge der Entzündung entstehen flächenhafte Hypo- und Hyperpigmentierungen. Vorherrschendes subjektives Symptom und für die betroffenen Kinder besonders belastend ist allerdings der quälende Juckreiz mit nächtlichen -krisen, der die Betroffenen zum heftigen Kratzen veranlasst.

Typisch sind blutige Fingernägel oder so genannte Glanznägel, die durch das Kratzen entstehen. Die Nägel werden auf der Haut regelrecht poliert. Im Regelfall bildet sich die Atopische Dermatitis bis zur Pubertät weitgehend zurück, ausgenommen die Neigung zu trockener Haut. Für Erwachsene sind flächige, verdickte und vergröberte Hautareale (= lichenifizierte Ekzeme) im Gesicht (Stirn, Augenlider), im Nacken, in den Arm- und Kniebeugen sowie an Hand- und Fußrücken typisch. Oft sind die Hautareale auch mit Papeln und Knötchen durchsetzt.

Schwierige Ursachenfindung Die im allgemeinen Sprachgebrauch benutzte Bezeichnung „Neurodermitis“ (griechisch: neuron = Nerv, derma = Haut, -itis = Entzündung), also „Nervenhautentzündung“, stammt aus dem 19. Jahrhundert. Damals wurde vermutet, eine Nervenentzündung sei Ursache der Hautveränderungen. Diese Ansicht ist längst widerlegt, der Begriff aber weiterhin geläufig.

Überholt sind mittlerweile auch die Thesen ein gestörtes Eltern-Kind-Verhältnis oder gar eine bestimmte Neurodermitis-Persönlichkeit sei Ursache der Erkrankung. Dennoch sind bis heute die genauen Ursachen für das Atopische Ekzem nicht vollständig geklärt. Defekte der epidermalen Barrierefunktion, der angeborenen Immunabwehr sowie der Immunregulation spielen eine entscheidende Rolle. Das Krankheitsgeschehen ist komplex und verläuft sehr individuell.

Einflussfaktor Erbanlage Geklärt ist: Das Atopische Ekzem entsteht auf der Basis einer genetischen Disposition zur Atopie. Atopie (griechisch = Ortlosigkeit) ist die Neigung mit Überempfindlichkeitsreaktionen, also allergischen Reaktionen vom Soforttyp (Typ-I-Allergie), auf den Kontakt mit ansonsten harmlosen Substanzen aus der Umwelt zu reagieren. Atopie bezeichnet demzufolge eine körperliche Bereitschaft zu einer krankhaft erhöhten Bildung von Immunglobulin-E-Antikörpern (IgE). Auch die allergische Rhinokonjunktivitis (Heuschnupfen) oder Asthma bronchiale gehören zu den atopischen Erkrankungen.

Bei Neurodermitis ist die familiäre Häufung offensichtlich: Ungefähr zwei Drittel der Erkrankten weisen eine atopische Familienanamnese auf. Sind beide Elternteile betroffen birgt dies ein 75-prozentiges Risiko für das Kind, ebenfalls an Atopischer Dermatitis zu erkranken. Ist nur ein Elternteil erkrankt, beträgt die Wahrscheinlichkeit noch 35 Prozent und ohne jegliche familiäre Vorgeschichte etwa 15 Prozent. Zahlreiche Gene prädisponieren zu atopischen Erkrankungen und lösen so beispielweise eine veränderte Immunantwort oder eine Störung der Barrierefunktion der Haut aus.

So ist bekannt, dass Art und Umfang von Mutationen des Strukturproteins Filaggrin Einfluss auf den Schweregrad der Neurodermitis haben. Ebenso hat dies Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit zusätzlich an allergischem Asthma oder allergischer Rhinitis (Heuschnupfen) zu erkranken (atopische Trias). Die Mutation des Filaggrin-Gens ist zudem für eine erhöhte Allergendurchlässigkeit sowie einen erhöhten Wasserverlust der Haut verantwortlich.

Die Haut ist deshalb sehr trocken und eine verminderte Synthese von Barrierelipiden der Epidermis (Oberhaut) verstärkt diese Trockenheit noch. Auch ist bekannt, dass Ichthyosis vulgaris, eine durch einen Gendefekt (auch Filaggrin-Gen) verursachte Verhornungsstörung der Haut, zu 40 bis 50 Prozent mit einer Atopischen Dermatitis vergesellschaftet ist.

Krankheitsspezifische Defekte der unspezifischen Immunabwehr kommen hinzu. Hautinfekte, ausgelöst durch Bakterien (etwa Staphylokokkus aureus, Streptokokkus pyogenes, Pityrosporum ovale), Pilze oder Viren (vor allem Herpes simplex) sind leider eine typische Komplikation beim Atopischen Ekzem, da das Zusammenspiel verschiedener Immunzellen aus dem Gleichgewicht gerät. Defekte der Immunregulation wiederum führen dazu, das allergischen Erkrankungen Vorschub geleistet wird.

»Die Verbindung von Psyche und Hautgesundheit darf nicht unterschätzt werden.«

Die durch die Degranulation der Mastzellen ausgeschütteten Mediatoren (Histamin, Leukotriene etc.) sind beim Atopischen Ekzem dann für den starken Juckreiz verantwortlich. Die erbliche Veranlagung allein macht aber noch nicht krank, sondern nur anfällig. Erst wenn ungünstige Umwelteinflüsse hinzukommen und mehrere Mechanismen ineinandergreifen, kann die Erkrankung ausbrechen.

Fakten in Kürze Der Neurodermitis, besser Atopische Dermatitis oder Atopisches Ekzem genannt, liegt eine genetische Veranlagung zur Atopie zugrunde. Bei Neurodermitis ist die Haut-Lipid-Barriere nicht intakt, Defekte der angeborenen Immunabwehr sowie der -regulation kommen hinzu. Die Haut ist anfälliger für Infektionen, für das Eindringen von Allergenen und kann ihre Schutzfunktion nicht in dem Maße wahrnehmen wie bei Gesunden.

Die Folge: Das Immunsystem reagiert deutlich überschießend auf Reize aus der Umwelt. Kaum eine Hautkrankheit ist gegenüber äußeren und inneren Störeinflüssen so anfällig wie die Atopische Dermatitis. Kontakt mit physikalischen, chemischen oder mikrobiellen Reizen kann zu Entzündungen und Immunreaktionen führen, die einen Erkrankungsschub auslösen. Allergene können leichter in den Körper eindringen. Es wird häufig beobachtet, dass

  • durch Stress ausgelöstes Schwitzen,
  • Kleidungsstücke aus reiner Wolle oder Synthetik,
  • Kontakt mit Seifen, Staub, Schrubben, heißes oder ausgiebiges Waschen oder Baden,
  • die Einnahme von die Mediatorfreisetzung begünstigenden Substanzen oder Nahrungsmitteln (etwa Kuhmilch, Hühnereiweiß, Nüsse),
  • Allergene, die auf die Haut gelangen oder eingeatmet werden (etwa Hausstaubmilbenkot, Pollen, Tierhaare),
  • Klimafaktoren, wie extreme Kälte, Trockenheit oder Schwüle,
  • Umweltgifte, wie Ozon, Dieselabgase oder Tabakrauch,
  • Besiedelung der Haut mit Bakterien, Viren oder Pilzen (mikrobielle Antigene) bei vorhandener Neurodermitis,

es schaffen, akute Ekzemschübe auszulösen. Sie sind damit Trigger- oder Provokationsfaktoren, also Reize, die einen Ekzemschub auslösen, ohne selbst Ursache der Erkrankung zu sein. Häufig werden die Auslöser allerdings als Ursache der Atopischen Dermatitis missverstanden. Und so kommt es, dass an ihre Identifizierung und Eliminierung große Hoffnungen, ja Heilserwartungen geknüpft werden.

Daraus erklärt sich die Hartnäckigkeit, mit der teilweise radikale, gesundheitsgefährdende Diäten bei Kindern verfolgt werden oder auch die Inbrunst mit der manche Eltern Impfungen ablehnen. Die ungerechtfertigte Nichtimpfung von Neurodermitiskleinkindern, um sie dadurch vor einer befürchteten Ekzemverschlechterung zu schützen, gefährdet die Kinder nur zusätzlich.

In den Teilen 2 und 3 liegt der Schwerpunkt auf den Präventionsmaßnahmen sowie den Therapiemöglichkeiten.

ZUSATZINFORMATIONEN
Einflussfaktoren Psyche und Ernährung

Einflussfaktor Psyche
Auch die Verbindung von Psyche und Hautgesundheit darf nicht unterschätzt werden. So gehört die atopische Dermatitis zu den multifaktoriellen Dermatosen, bei denen psychische Aspekte in der Entstehung oder Verarbeitung eine wichtige Rolle spielen. Insbesondere sensible Menschen leiden vielfach unter psychisch getriggerten Krankheitsschüben. Aber: „Nicht jede Neurodermitis ist psychisch bedingt – trotz des Namens“, informiert Professor Dr. Wolfgang Harth, Klinik für Dermatologie und Allergologie am Vivantes Klinikum Berlin-Spandau auf der letztjährigen Jahrestagung des Berufsverbands der Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie.

Eine japanische Studie, die den Effekt von Stress (Erdbeben von Kobe 1995) auf das atopische Ekzem zum Thema hatte, bestätigt dies. 1457 bekannte Neurodermitis-Patienten wurden im Rückblick untersucht. Über eine Verschlechterung des Hautzustandes berichteten 39 Prozent der Patienten aus Regionen mit schweren Erdbebenschäden, 34 Prozent mit leichten und nur sieben Prozent der Patienten, aus Regionen ohne Erdbebenschäden. Studien-Ergebnis: Ein Drittel der Neurodermitiker ist durch psychische Faktoren beeinflussbar. Interessanterweise zeigte sich auch bei neun Prozent der Patienten eine Verbesserung durch den äußeren Stress. Diese Untergruppe, bei der Ablenkung die Erkrankung stabilisiert, wird „Ruhe-Neurodermitiker“ genannt. Um den jeweiligen Neurodermitiker-Typ herauszufinden, eignen sich neben einer ausführlichen Anamnese durch den Arzt auch Patiententagebücher, in denen Stresssituationen abgefragt werden.

Einflussfaktor Ernährung
Die erhöhte Neigung zu Allergien bei Neurodermitis manifestiert sich häufig im Nahrungsmittelsektor. Häufigster Grund, dass Nahrungsmittel einen Schub auslösen, ist eine echte Nahrungsmittelallergie. Besonders im Säuglings- und Kindesalter ist dies ein Problem: Ein Drittel der Neurodermitis-Kinder hat eine zusätzliche Allergie gegen ein oder zwei Lebensmittel, meistens gegen Grundnahrungsmittel wie Hühnereiweiß, Kuhmilch und Weizen.

Unter ärztlicher Anleitung sollte herausgefunden werden, ob und welche Allergien überhaupt vorliegen. Dazu dienen Hauttests (Prick-Test), Eliminationsdiäten mit anschließender Provokation und Ernährungstagebücher. Ist die Allergie bestätigt, gilt es das betreffende Nahrungsmittel konsequent zu meiden. Da bei Kindern Allergien oft bis zum Schulalter wieder verschwinden, steht etwa zwei Jahre nach der Diagnose eine weitere Überprüfung an. Sensibilisierungen auf Erdnüsse, Haselnüsse und auch Fisch können länger bleiben.

Auch Pseudoallergien, also Reaktionen auf Zusatz- und Aromastoffe, Salicylsäure oder biogene Amine, häufig säurehaltige Nahrungsmittel oder Tomaten können genau wie echte Allergien die Ekzem-Symptome von Neurodermitikern verschlechtern. Solche Nahrungsmittel-Intoleranzen sind allerdings deutlich seltener als Allergien.

Reiner Zucker spielt – entgegen vielfacher Volksmeinung – als Nahrungsmittel-Allergen keinerlei Rolle und muss daher bei Atopischen Ekzem auch nicht gemieden werden. Auch eine Laktose- oder Fruktoseintoleranz hat laut der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e.V. (DGE) keinen Einfluss auf eine Neurodermitis.

Bei erwachsenen Neurodermitikern spielen pollenassoziierte Allergien, häufig gegen Baum- oder Gräserpollen, Äpfel, Sellerie oder Gewürze, eine weitaus größere Rolle als Allergien auf Grundnahrungsmittel.

Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 04/13 ab Seite 86.

Dr. Eva-Maria Stoya, Apothekerin / Journalistin

×