© DIE PTA IN DER APOTHEKE

Portrait

MIT 80 JAHREN UM DIE WELT

Christl Trischler hätte in Rente gehen können, stattdessen flog sie für Apotheker ohne Grenzen nach Pakistan, dann in immer weitere Katastrophengebiete. Über Tschernobyl, Toiletten und Trinkwasser.

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Das Telefon klingelt. Eva-Christine Trischler räumt gerade ihren Schreibtisch. Sie hat ihre Apotheke verkauft, heute ist ihr letzter Arbeitstag vor der Rente. Sie geht ans Telefon: Ob sie für Apotheker ohne Grenzen nach Pakistan fliegen könne? Ein Erdbeben! „Das war ein Donnerstag, und am Samstag war ich in Islamabad“, erinnert sich die heute fast 80-Jährige. Sie war vorbereitet, hatte Kurse besucht. Danach war sie für Apotheker ohne Grenzen, Humedica und LandsAid weltweit im Einsatz: eine Flutwelle in Bangladesch, Bürgerkrieg in Kenia, an der türkisch-syrischen Grenze eine Klinik für Flüchtende aufbauen. Gefürchtet hat sie sich nie, erzählt sie, ruft dann aber „Halt! Doch, einmal“ und lacht. Das war in Pakistan.

Sie arbeitet und wohnt in einer geräumten Schule. Als sie gerade das Arzneimittellager prüft, bebt plötzlich die Erde. „Die Tür klemmte, ich war eingeschlossen! Niemand war in Rufweite.“ Sie überlegt: „Krabbele ich aus dem Oberlicht? Und was ist dahinter, falle ich runter?“ Schließlich kann sie die Tür freirütteln. Dennoch schläft sie von diesem Moment an unter freiem Himmel, auch bei Regen. Heute kichert sie darüber: „Ich habe seitdem nie mehr in einem Erdbebengebiet die Toilettentür zugesperrt.“ Christl Trischler studiert in München Pharmazie. Ihre Stelle bei Togal gibt sie auf, um ihrem Mann nach Erzhausen bei Darmstadt zu folgen.

An der PTA-Schule lehrt sie das Pillendrehen, übernimmt später eine eigene Apotheke. Die linksgerichteten Proteste zu ihrer Studienzeit lehnte sie kopfschüttelnd ab, dachte lange konservativ. Dann kam Tschernobyl. Sie erfährt, dass Joschka Fischer, damals hessischer Umweltminister, nach dem Reaktorunfall seinen zuständigen Kollegen anrief – und dieser ihn abwimmelte, weil er gerade im Theater sitze. „Darüber habe ich mich so aufgeregt, dass ich beschloss, politisch aktiv zu werden.“ Zunächst schließt sie sich einer Organisation von Ärzten an, wechselt dann zum Verein demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten (VdPP), wird später Vorstand. Schelmisch ordnet Trischler ein: „Wir sind links.“ Ihr Mann ist entsetzt. „Wir haben uns dann scheiden lassen. Dass ich mich politisch so links bewegt habe, war mit der Grund.“

Als ihre beiden Kinder groß sind, packt sie die Reiselust, doch Strandurlaub findet sie langweilig. Also trekkt sie durch Kanada, Guatemala, La Réunion. Mit einer Freundin reist sie in den Jemen und den Iran: „Wir zwei Frauen alleine in den Bergen, das war spannend.“ Zwei Wochen lang wandert sie durch Nepal. „Es hat zwar geregnet wie wüst, aber man hat weit und breit keinen anderen Touristen gesehen, nur Einheimische.“ Die Landschaft fasziniert sie. Später wird sie über Jahre hinweg immer wieder nach Nepal gehen und Health Posts errichten, kleine medizinische Stationen. In ihrem geliebten Garten in Erzhausen erinnern Gebetsfahnen an den Himalaya, bunte Quadrate flattern an einer Leine. Sie denkt gern an ihre Reisen und Einsätze: „Das ist ein Schatz, mit dem man sich beschäftigen kann, wenn man im Alter nichts mehr machen kann.“

Heute würde sie auf keinen Einsatz mehr fahren. „Mit 60, 70, fühlte ich mich noch absolut fit. Aber jetzt nicht mehr, das wäre eine Last für alle.“ Nun teilt sie mit anderen, was sie erlebt hat, besonders das Thema Toiletten und Wasser berührte sie auf ihren Einsätzen. Sie erinnert sich an einen alten Mann in Kenia. Die Apothekerin erklärte ihm mit Händen und Füßen, er soll sein Malaria-Medikament viermal täglich einnehmen und immer ein Glas Wasser dazu trinken. „Da hat er uns nur angeguckt. Und dann sind wir darauf gekommen, dass er an dem Tag noch gar nichts getrunken hatte. Dabei war er zwei Stunden zu Fuß zu uns unterwegs.“ Denn er hatte kein Wasser. Auch in Pakistan wurde Wasser zum Problem, aber es mangelte nicht daran, sondern es war schmutzig. Nach einer Flutwelle campten die Menschen auf einem improvisierten Damm, um sie herum Kühe auf überschwemmten Reisfeldern. Es gab keine Feuerstellen um das Flusswasser abzukochen, keine Toiletten, nicht mal eine Grube.

„Die hatten reihenweise Durchfall. Das ist eines der Hauptprobleme, vor allem für die Kinder.“ Seitdem weiß sie sauberes Trinkwasser zu schätzen, dass wir es ins Klo gießen, empört sie. In Vorträgen erzählt sie deshalb von ihren Einsätzen und stellt Projekte vor, die Toiletten mit gereinigtem Abwasser spülen. So wird Christl Trischler nie langweilig. Sie verbringt gern Zeit mit ihren fünf Enkeln und liest – aktuell Simone de Beauvoirs „Das Alter“. Außerdem tritt sie in die Fußstapfen ihrer Tante. Nicht nur, weil die in den 20er und 30er Jahren allein durch die USA und Griechenland tourte. Sie erforschte auch die Familienursprünge, was Christl Trischler nun fortsetzt. Sie erzählt, dass gleich mehrere Frauen in der Familie der Armut entflohen, indem sie Nonne wurden. Das griff sie im Buch „Frauen in der Pharmazie“ auf, das sie mit vier weiteren Frauen aus dem VdPP schrieb: Klosterapothekerinnen, die Dorfbewohner kostengünstig mit Rezepturen versorgten.

Für ihre Kriseneinsätze erhielt Christl Trischler 2006 das Bundesverdienstkreuz. “Man kommt sich wahnsinnig geehrt vor. Aber dann hat man so ein Ding in der Schublade liegen, weiter ist es nichts. Unwichtig“, sagt sie. „Aber das ist mir wichtig: Jeder von uns hat das Bedürfnis zu helfen, wenn er Not sieht. Nur kann dieses Helfen total danebengehen, wenn man diese kranken, kaputten Menschen sieht. Das kann man eigentlich nicht aushalten.“ Sie will, dass Hilfswillige sich Vereinen anschließen, um in Kursen das Aushalten zu trainieren. Die Lehrgänge finden im Freien statt, zweimal drei Tage lang Zelten als Selbstversorger und ein Theorieseminar zur Krisenhilfe. „Es gibt Leute, die entsetzt sind, wenn sie nicht ihr komfortables Bettchen haben und eine komfortable Toilette.“ In Katastrophengebieten können die Helfer Hygiene, Strom und ein Dach über dem Kopf aber nicht erwarten. Christl Trischler gesteht: „Das kann nicht jeder.“

In therapeutischen Debriefings arbeiten die Vereine die Einsätze mit den Helfern auf. Sie betont auch: Wer spenden will, soll Geld schicken, keine Arzneimittel. In Pakistan fand sie einen Berg an Medikamenten vor: Angebrochene Klinikpackungen, Tabletten aus Korea und ein Präparat, das noch nicht zugelassen war. „Es war unmöglich, das zu sortieren.“ Die Spenden landeten auf dem Müll. Deshalb schloss sie sich Apotheker ohne Grenzen an, die mit International Health Kits arbeiten. In diesen genormten Koffern ist alles absolut Notwendige enthalten. „Wir überlegen genau, was brauchen wir wirklich und wie kriegen wir das dorthin?“ Der Verein berücksichtigt auch, ob Arzneimittel vor Ort produziert werden und Lieferungen der dortigen Wirtschaft schaden könnten. Obwohl solche Einsätze die Helfer herausfordern, rät Christl Trischler dazu, es auszuprobieren. Und wäre sie jünger, würde sie wohl selbst wieder losziehen.

Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 06/2021 ab Seite 30.

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