Kind, das in ein Schulheft schreibt.
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Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern

LEGASTHENIE

Etwa fünf Prozent aller Schüler sind von einer Lese-Rechtschreibschwäche betroffen. Sie schreiben langsam, verwechseln Buchstaben und vergessen aus Angst vor einer Blamage Bücher und Hefte zuhause.

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Legasthenie ist eine bei normaler oder überdurchschnittlicher Intelligenz auftretende Schwäche beim Erlernen der Schriftsprache infolge von Teilleistungsschwächen der auditiven und visuellen Wahrnehmung, der Motorik oder der sensorischen Integration. Kinder mit Lernstörungen können verschiedene Merkmale aufweisen: Dazu gehören extreme Schüchternheit, die Angst vor der Schule, soziale Isolation, Selbstzweifel, das Gefühl des Versagens oder regelmäßiges Schwänzen des Unterrichts. Auch körperliche Symptome wie Einnässen, Bauch- oder Kopfschmerzen sind möglich. Eine Analyse der Duden-Institute für Lerntherapie hat Daten aus der Beratungsarbeit analysiert: Fast 70 Prozent der betroffenen Schüler klagen über mindestens eine Form der Belastung.

Viele leiden jedoch auch unter mehreren Auffälligkeiten, immerhin jedes fünfte Kind mit einer Lernschwäche weist darüber hinaus körperliche Beschwerden auf. Für Jugendliche stellt die Problematik eine noch höhere Belastung dar. In diesem Alter nehmen vor allem die Angst vor der Schule sowie der soziale Rückzug bis hin zu Depressionen zu. Zudem existieren geschlechtsspezifische Unterschiede: Jungen reagieren auf die Lernstörung oft mit einem Aufmerksamkeitsdefizit- Hyperaktivitätssyndrom (ADHS), während Mädchen eher unter physischen Symptomen und sozialer Abschottung leiden. Die Problematik existiert in allen bekannten Sprachen, allerdings herrscht Uneinigkeit darüber, ob ihre Häufigkeit durch die Art der Sprache und der geschriebenen Schrift beeinflusst wird.

Buchstäblich hilflos Laut ICD-10 ist das Hauptmerkmal der Legasthenie eine Beeinträchtigung in der Entwicklung der Lesefertigkeiten, die nicht allein durch das Entwicklungsalter, durch Visus-Probleme oder eine unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Leseverständnis, die Fähigkeit, gelesene Worte wiederzuerkennen, sowie Leistungen bei Aufgaben, für welche Lesefähigkeit benötigt wird, sind unzureichend. Mit Lesestörungen gehen häufig auch Rechtschreibstörungen einher, welche bis in die Adoleszenz persistieren, auch wenn im Lesen mittlerweile Fortschritte gemacht wurden. Kinder mit einer Lese-Rechtschreibstörung haben in der Vorgeschichte nicht selten eine Sprachentwicklungsstörung. In anderen Fällen kann die Sprachentwicklung zwar im normalen Alter durchlaufen sein, jedoch weisen Heranwachsende dann Schwierigkeiten bei der Verarbeitung akustischer Reize, die sich in Problemen der Klangkategorisierung, beim Reimen und möglicherweise in Unzulänglichkeiten der Sprach-Laut-Unterscheidung, beim Behalten akustischer Sequenzen sowie der akustischen Assoziation äußern, auf. Zusätzlich zum schulischen Misserfolg sind eine mangelhafte Teilnahme am Unterricht sowie soziale Anpassungsprobleme häufige Komplikationen, insbesondere in den späteren Schuljahren.

Diagnostik laut ICD-10 Bei einer Lese-Rechtschreibstörung befindet sich die Leseleistung des Kindes unter dem Niveau, welches aufgrund des Alters, der Beschulung und der allgemeinen Intelligenz zu erwarten ist. Am besten ist dies auf der Grundlage eines individuell angewendeten standardisierten Testverfahrens zur Prüfung des Lesens, des Leseverständnisses und der Lesegenauigkeit zu beurteilen. Die Art des Leseproblems ist von verschiedenen Faktoren abhängig: von der Sprache, vom Schrifttyp und vom erwarteten Niveau der Leseleistung. In den Anfangsstadien des Erlernens einer alphabethischen Schrift gibt es mitunter Schwierigkeiten beim Aufsagen des Alphabetes, beim Bilden von Wortreimen, bei der Kategorisierung von Lauten oder bei der Benennung von Buchstaben. Im weiteren Verlauf treten unter Umständen Fehler beim Lesen auf, die sich folgendermaßen bemerkbar machen: , Auslassen, Ersetzen, Verdrehungen oder Hinzufügen von Worten oder Wortteilen. , Geringe Lesegeschwindigkeit. , Vertauschung von Wörtern im Satz oder von Buchstaben in den Wörtern. , Startprobleme beim Vorlesen, ungenaues Phrasieren, langes Zögern oder Verlieren der Zeile im Text. Hingegen zeigen sich Defizite im Leseverständnis durch:

- Die Unfähigkeit, Gelesenes zusammenzufassen.
- Dem Unvermögen, aus dem Text Schlüsse zu ziehen oder Zusammenhänge zu erkennen.
- Fragen zur gelesenen Geschichte werden mit Hilfe von allgemeinem Wissen und nicht auf der Grundlage des Textes beantwortet.

Anatomischer Unterschied Belgische Forscher verfolgten die zeitlichen Veränderungen der Aktivitätsmuster im Gehirn und fanden heraus, dass bei Legasthenikern die Kommunikation zwischen dem oberen Schläfenlappen und weiter vorne gelegenen Bereichen nur eingeschränkt funktionierte. Darüber hinaus wiesen sie nach, dass der Nervenstrang, über den diese Kommunikation stattfand, bei Betroffenen schwächer ausgebildet war als bei guten Lesern. Daher vermuteten die Wissenschaftler, dass als Ursache ein eingeschränkter Zugriff auf den Phonemspeicher (phonologisches Arbeitsgedächtnis im Gehirn, das dazu dient, Laute wiederzuerkennen) in Betracht kommt.

Therapie und Trainingsprogramme Die Legasthenie ist in der Regel nicht heilbar, allerdings ist es möglich, die Probleme beim Lesen und Schreiben mit Hilfe einer rechtzeitigen und gezielten Unterstützung durch speziell ausgebildete Therapeuten zu vermindern. Eltern sollten bei der Auswahl darauf achten, dass eine Zertifizierung durch den Bundesverband Legasthenie und Dyskal- kulie vorliegt. Ein Behandlungsansatz ist etwa das Stufenmodell nach Frith.

Auf der ersten (logografischen) Stufe lernen Heranwachsende, einzelne Buchstaben mit ihren Lauten zu verknüpfen (Buchstaben- Laut-Erkennung). In der alphabethischen Phase wird die phonologische Bewusstheit durch Sprech- und Hörübungen verbessert. Kinder sollen dadurch die Lautstruktur der gesprochenen Sprache verstehen und Reime, Silben und Wörter erkennen. Es folgt die orthografische Stufe, auf der Rechtschreibregeln wie Großund Kleinschreibung, Mitlautverdoppelung oder die Stumme-h-Regel erklärt werden. Außerdem gibt es Förderprogramme zur Verbesserung der Wahrnehmung – diese optimieren allerdings nicht die Lese- und Rechtschreibekompetenzen. Auch der Einsatz spezieller Computerprogramme zur Unterstützung von Kindern mit Lese-Rechtschreibschwäche ist sinnvoll. Hierzu gehören beispielsweise Rechtschreibübungsprogramme oder Wortlistentrainings. Die Arbeit mit Computerprogrammen sollte jedoch stets durch einen Therapeuten begleitet werden, da die Legasthenie-Förderung mehr als nur ein reines Lese-Rechtschreibtraining darstellt.

Nachteilsausgleich

In vielen Bundesländern dürfen bei Kindern mit Legasthenie Rechtschreibe- und Lesefehler nicht in die Notengebung mit einbezogen werden. Zusätzlich gibt es Zeitzugaben bei Prüfungen oder das Wissen wird von Vornherein mündlich abgefragt. Weitere Informationen: bvl-legasthenie.de

 

Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 04/17 ab Seite 32.

Martina Görz, PTA und Fachjournalistin

 

 

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