Frau mit Hand an Schläfe © Photographee.eu / stock.adobe.com
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Arzneimittelabhängigkeit

FREIER WILLE ODER ZWANG?

Wieso sind bestimmte Substanzen für einige dem Anschein nach unwiderstehlich? Gibt es Möglichkeiten, diese Suchtgefahren rechtzeitig zu erkennen und dem Teufelskreis zu entgehen?

Seite 1/1 17 Minuten

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Sucht ist schon längst eine anerkannte Krankheit. Nicht nur in der Drogenszene gibt es Abhängige, sondern auch im Umfeld von Ärzten und Apotheken kann es Betroffene geben. Eine Arzneimittelabhängigkeit entwickelt sich oftmals schleichend und ist weder von der Person selbst noch von ihrem direkten Umfeld einfach zu erkennen. Die Grenzen zwischen einer optimalen Arzneimitteltherapie und dem Weg in eine mögliche Abhängigkeit sind fließend.

Definitionen sind echt schwierig Im Zusammenhang mit den Begriffen der Arzneimittel- oder Medikamentenabhängigkeit werden auch Arzneimittelmissbrauch und Arzneimittelsucht synonym verwendet. Eine klare Abgrenzung ist selbst heute noch schwierig. Früher sprachen Fachkreise von einem Arzneimittelmissbrauch, wenn das Medikament ohne medizinischen Grund zu lange eingenommen wurde oder es zu einer eigenständigen Erhöhung der Einnahmemenge oder Verkürzung des Einnahmeintervalls kam. Ausschließlich der unsachgemäße Einsatz psychotroper Substanzen wurde als Arzneimittelsucht bezeichnet. Mediziner und Psychologen ziehen heute andere Kriterien zur Unterscheidung heran und sprechen von moderater oder schwerer Substanzgebrauchsstörung.

Diagnose Um den Schweregrad einer Medikamentenabhängigkeit zu bestimmen, gibt es verschiedene Kriterien. Eine Einteilung folgt dem DMS-V, das ist die Abkürzung für die fünfte Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (engl.: Diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen). Es ist zurzeit das dominierende psychiatrische Klassifikationssystem, das von anerkannten Experten erarbeitet wurde und sowohl in den USA als auch bei uns Anwendung findet.

Eine weitere Möglichkeit der Einteilung wird von der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten, abgekürzt ICD, der Weltgesundheitsorganisation beschrieben. Die klare und einheitliche Definition jeder Störung ist unabdingbar, um nach der Diagnosestellung eine optimale Versorgung des Patienten sicherzustellen. Vorteil: Es bedienen sich Ärzte, Therapeuten und alle anderen Beteiligten einer gemeinsamen Sprache.

Tiere auch?

Ja, Tiere können auch süchtig werden. Es gibt durchaus Beispiele aus dem Tierreich, bei dem verschiedene Tierarten rauschähnliche Zustände bewusst anstreben. Kängurus konsumierten wiederholt Schlafmohn und zeigten nicht nur die euphorisierenden Effekte, sondern auch die typischen Entzugssymptome. Russische Braunbären schnüffelten bei Manövern ausgelaufenes Kerosin. Rentiere waren nach dem Verzehr von Fliegenpilzen auf einer Art Magic-Mushrooms-​Trip. Delfine wurden beim Spiel mit dem Kugelfisch high. 2014 gelangen einem britischen Filmteam die Aufnahmen einer Gruppe, die sehr vorsichtig auf einem aufgeblähten Kugelfisch kaute und diesen, fast wie einen Joint, untereinander weiterreichte. Der Kugelfisch fühlte sich verständlicherweise bedroht und sonderte darum sein hochgefährliches Nervengift Tetrodotoxin ab. Die Delfine trieben danach für circa 20 Minuten wie berauscht an der Meeresoberfläche. Die biochemischen Abläufe im Gehirn von Tieren sind denen des Menschen ganz ähnlich und unterliegen gleichen Mechanismen. Die Suchtstoffe aktivieren auch bei Tieren das Belohnungssystem.

Sucht ist zeitlos In der Geschichte der Menschheit ist der Genuss von Rauschmitteln nichts Ungewöhnliches. Schon bei den Ägyptern um circa 3000 v. Chr. gab es bereits alkoholische Getränke, ähnlich unserem heutigen Bier oder Wein. Es gehörte zu den religiösen Riten, die Grenze zwischen der Lebendwelt und der Totenwelt durch die Rauschwirkung des Alkohols zu überwinden. So war es absolut erwünscht, dass sich alle Gäste anlässlich einer Totenfeier im Vollrausch befanden.

Auch die Skythen, ein Volk von eurasischen Reiternomaden, versetzten sich in der Zeit um circa 700 v. Chr. mit Dämpfen von Hanf in einen tranceartigen Zustand, um dann mit ihren Toten durch Gesänge und Tänze in Kontakt treten zu können. Die euphorisierende Wirkung des Schlafmohns war bereits den Sumerern im 3. Jahrtausend v. Chr. bekannt. In der Antike erwähnten weiterhin die Griechen die Verwendung von Mohn als „Mittel um das Vergessen zu fördern“. Den Römern war die schmerzlindernde Wirkung des Mohnsaftes ebenso bekannt wie später Hildegard von Bingen.

Für den damals ​schon so beliebten Wein war die griechische Gottheit Dionysos zuständig, während es bei den Römern den Gott Bacchus gab. Nach der Entdeckung Amerikas am Ende des 15. Jahrhunderts wurden Blätter der Tabakpflanze und der Cocapflanze als Rauschmittel geraucht. Mitte des 19. Jahrhunderts konnte das Hauptalkaloid der Cocapflanze analysiert werden und das Kokain war geboren. Mit der rasanten Entwicklung neuer chemischer Analyse- und Syntheseverfahren stieg und steigt bis heute auch die Anzahl der auf dem Markt befindlichen Suchtstoffe in ungeahnte Höhen.

Auch heilsbringende Arzneistoffe können süchtig machen, was der aktuelle Blick nach Amerika zeigt. Der unbedachte und oft verharmloste Einsatz von Opioiden und deren Übergebrauch hat seit Anfang des neuen Jahrtausends bereits mehr als 300 000 Menschen das Leben gekostet. Die anfänglich iatrogene (griech.: durch den Arzt verursacht) und mittlerweile unkontrollierbar gewordene Opioidsucht macht politische Konsequenzen dringend erforderlich. In vielen Fällen sind Opioide hier zur Einstiegsdroge geworden, die von den Abhängigen danach oftmals durch das „preisgünstigere Heroin“ ersetzt wurde.

Die in Deutschland gültige Betäubungsmittelverschreibungsverordnung (BtMVV) versucht einer derartigen Ausuferung entgegenzuwirken. Der Gesetzgeber hat aus diesem Grund mehrere Kontrollebenen eingebaut. So wird der gesamte Vertriebsweg von Stoffen, die unter die BtMVV fallen, lückenlos von der Herstellung, über die Belieferung von Groß- oder Zwischenhändlern bis zu den Apotheken und letztendlich dem Patienten dokumentiert.

Aber auch diese Hürden bieten selbstverständlich keinen absoluten Schutz. In diesem Kontext ist auch die erneut entfachte, aktuelle Diskussion zur Liberalisierung des Cannabis-Konsums durchaus kritisch zu sehen. Es werden Stimmen lauter, die davor warnen, dass die Freigabe von Cannabis, wie bei Alkohol auch, ein erleichterter Zugang zu einer möglichen Einstiegsdroge sein kann.

Begriffe Grundsätzlich werden substanzungebundene von substanzgebundenen Abhängigkeiten unterschieden. Bei substanzungebundenen Abhängigkeiten stehen Tätigkeiten im Fokus. Zu ihnen zählen beispielsweise Arbeits-, Kauf-, Spiel-, Internet-, oder Esssucht. Substanzgebundene Abhängigkeiten bestehen gegenüber Wirkstoffen, deren Effekten oder den unangenehmen Effekten ihres Fehlens. Sie beruhen auf den Wechselwirkungen der Substanzen mit dem lebenden Organismus. Nach der Definition der WHO handelt es sich bei einer Arzneimittelabhängigkeit um das zwanghafte Bedürfnis, einen bestimmten Stoff periodisch oder wiederholt einzunehmen.

Die Abhängigkeit kann psychisch und oft auch physisch sein. In diesem Zusammenhang tauchen auch Begriffe wie Toleranzentwicklung und Sucht auf, die sich nicht streng gegeneinander abgrenzen lassen. Es handelt sich um Toleranzentwicklung oder Gewöhnung, wenn während einer Therapie mit wiederholter Applikation eines Arzneistoffes dessen Dosis immer weiter erhöht werden muss, um die gleiche Wirkung wie bei der ersten Applikation zu erzielen. Der Patient hat sich an den Arzneistoff in gewisser Weise „gewöhnt“. Bei manchen Arzneimittelgruppen tritt das Phänomen der Tachyphylaxie auf.

Hierbei kommt es bei kurz hintereinander gegebenen gleichen Dosen schlagartig zu einem starken Verlust der Wirkungsintensität. Bedingt durch die ständige Einnahme dieser Wirkstoffgruppe, verarmt der Organismus beispielsweise an einem körpereigenen Neurotransmitter, dessen Speicher sich nicht mehr so schnell wieder füllen lassen. Selbst weitere Dosiserhöhungen führen nicht mehr zur Steigerung der Wirkung und es kann zum völligen Wirkungsverlust kommen. Dieser Effekt ist mit einer Toilettenspülung vergleichbar, wo auch erst nach einer vollständigen Füllung mit Wasser wieder richtig gespült werden kann.

Physische Abhängigkeit Liegt eine physische oder körperliche Abhängigkeit vor, ist diese vom Betroffenen selbst schwer zu durchbrechen. Der Köper hat sich an die Einnahme oder Zufuhr des Suchtmittels angepasst und gewöhnt. Die körperliche Abhängigkeit zeichnet sich durch Merkmale wie überstarkes Verlangen nach dem jeweiligen Stoff, dessen wiederholter Einnahme sowie kontinuierlicher Dosissteigerung und Toleranzentwicklung aus. Es kommt zum Kontrollverlust im Umgang mit dem Stoff. Zusätzlich werden berufliche Aktivitäten sowie das soziale Umfeld zunehmend vernachlässigt.

Unterbleibt die regelmäßige Versorgung mit dem Stoff, tritt immer eine starke Entzugssymptomatik auf. Beim körperlichen Entzug kann es zu Symptomen wie Zittern, starken Schweißausbrüchen, Magen- und Darmkrämpfen, Schmerzen, Unruhezuständen bis hin zu Panikattacken kommen. Ein Entzug ist ohne ärztliche Überwachung gefährlich, da es zur totalen Entgleisung des Stoffwechsels beim Süchtigen kommen und infolgedessen tödlich enden kann. Darum muss der Organismus immer langsam und sehr achtsam entgiftet werden.

Da eine physische Abhängigkeit auch immer mit einer psychischen Abhängigkeit einhergeht, ist nach dem körperlichen Entzug eine psychotherapeutische Therapie zwingend indiziert. Bei einer Polytoxikomanie werden gleichzeitig oder nacheinander mehr als eine Droge oder Drogenart von einer Person konsumiert, um eine noch stärkere oder beschleunigte Wirkung zu erzielen. Bleibt der regelmäßige Konsum der entsprechenden Drogen aus, wird der Entzug umso schwieriger. Klassische Substanzen, die zu einer physischen Abhängigkeit führen, zeichnen sich durch ihr psychotropes Wirkprofil aus. Wirkstoffe aus der Gruppe der Benzodiazepine, Opioide, insbesondere Morphin-Derivate sowie Alkohol sind hier einzureihen.

Wer ist betroffen?

Eine Arzneimittelabhängigkeit ist bei Menschen aus allen sozialen Schichten anzutreffen, wobei Ältere häufiger betroffen sind als Jüngere. Darunter zeigen wiederum Frauen eine doppelt so hohe Anfälligkeit wie Männer. Die Abhängigkeit bleibt jedoch sehr oft unerkannt, die Dunkelziffer liegt vermutlich deutlich höher. Oftmals wird die Medikamentenabhängigkeit begleitet von einer Alkoholabhängigkeit beziehungsweise einer Alkoholsucht.

Psychische Abhängigkeit Auch bei der psychischen Abhängigkeit besteht ein unkontrollierbares Verlangen nach dem Suchtstoff, das in der Medizin als Craving bezeichnet wird. Arzneistoffe werden zum Suchtmittel, der Konsument fühlt sich unter der Einnahme besser, er kann trotz Unruhe und Anspannung gut schlafen, seine Stimmung ist aufgehellt oder seine Schmerzen lassen nach. Um dieses gesteigerte Wohlgefühl erneut zu erreichen, muss die Droge wiederholt eingenommen werden, dabei ist es nicht nötig die Dosis zu steigern. Ohne Droge jedoch fühlt sich der nun abhängig gewordene nicht mehr wohl, wird depressiv und hat Angst.

Sein Verlangen wird so groß, dass sich seine Gedanken ständig um die Droge selbst oder deren Beschaffung und Konsum drehen. Gereiztheit, Aggressivität und Vernachlässigung seiner Person überwiegen jetzt. In den meisten Fällen ist den Abhängigen ihre Situation bewusst, sie schaffen es aber nicht mehr allein aus der Abhängigkeit. Im eigentlichen Sinne gibt es keine körperlichen Entzugsymptome. Daher stehen psychotherapeutische Maßnahmen an erster Stelle, sind jedoch leider oft nicht erfolgreich. Amphetamine, Kokain und in geringen Maße auch Cannabis gehören in die Gruppe von Substanzen, die vorwiegend eine psychische Abhängigkeit hervorrufen.

Iatrogene Sucht Der Begriff „iatrogen“ leitet sich aus dem Griechischen ab und bedeutet „durch den Arzt verursacht“. Nach der Diagnosestellung obliegt es dem Arzt die bestmögliche Therapie für den Patienten festzulegen. Dazu gehören auch die Verordnungen von Medikamenten auf Rezept, deren Einsatz auf eine bestimmte Behandlungszeit determiniert wird. Besonderer Beachtung bedürfen Medikamente mit hohem Abhängigkeitspotential, wie beispielsweise Benzodiazepine oder die Z-Substanzen Zolpidem, Zopiclon und Zaleplon. Deshalb ist es besonders wichtig, diese Gefährdung zu kennen und den Patienten dahingehend zu sensibilisieren, damit er nicht in eine Abhängigkeit aufgrund einer ärztlichen Verordnung gerät.

Biochemische Gemeinsamkeiten Die Fragen, wie kann sich eine Abhängigkeit entwickeln und welche Mechanismen sind hierfür verantwortlich, können noch immer nur unzureichend beantwortet werden. Erkennbar sind, trotz stark unterschiedlicher Symptome, die von den Stoffen oder Handlungen hervorgerufen werden, jedoch Gemeinsamkeiten in Angriffspunkten und Wirkmechanismen. Es wird das menschliche Belohnungssystem aktiviert und Endorphine werden ausgeschüttet.

Diese Abläufe finden vor allem im limbischen System unseres Gehirns statt, an dem Ort, der für die Verarbeitung von Gefühlen und für unser Triebverhalten mitverantwortlich ist. Dem Neurotransmitter Dopamin fällt hierbei eine entscheidende Rolle zu, denn er vermittelt Empfindungen wie Freude oder Verlangen. Stoffe oder bestimmte Verhaltensmuster, die in der Hirnregion des limbischen Systems und der Kortex (Hirnrinde) zum Dopaminanstieg führen, zeichnen sich durch ein starkes Suchtpotential aus.

Opioide Opiate sind moderne Morphinabkömmlinge und werden nur bei sehr starken Schmerzen, die akut, chronisch, tumorbedingt und nicht-tumorbedingt sein können, eingesetzt. Tilidin, Tramadol*, Hydromorphon, Oxycodon und Pethidin stehen neben Morphin und Fentanyl als Wirkstoffe zur Verfügung. Aufgrund der starken Suchtgefährdung, die von allen Wirkstoffen ausgeht, sind die meisten Betäubungsmittel (*kein BtM) und unterliegen der Betäubungsmittelverschreibungsverordnung. Somit ist ihr Einsatz stark eingeschränkt und kann überwacht werden.

Die unrechtmäßige Besorgung von BtM-Rezepten ist damit erheblich erschwert, aber nicht unmöglich. Werden Opioide in falscher Dosis oder Anwendungsdauer eingesetzt, entwickelt sich eine physische und eine psychische Abhängigkeit. Es kommt recht schnell zur Toleranzentwicklung. Oft werden zusätzlich auch noch Alkohol oder andere psychotrope Stoffe eingenommen. Die berauschende und euphorisierende Wirkung steht bei den missbräuchlichen Verwendern so stark im Vordergrund, dass eine illegale Versorgung, zum Beispiel mit gefälschten Rezepten oder die Besorgung über Apotheken im Ausland, keine Seltenheit sind.

Benzodiazepine Bei den rezeptpflichtigen Sedativa (Schlafmittel) und Tranquillanzien (Beruhigungsmittel) sind die Benzodiazepine im breiten Einsatz. Alle Wirkstoffe sind verschreibungspflichtig und namentlich meist an ihrer Endung -azepam zu erkennen, so zum Beispiel Diazepam, Temazepam, Oxazepam, Lorazepam oder Flurazepam. Alle zeigen eine stark schlaffördernde und beruhigende Wirkung. Darüber hinaus wirken sie anxiolytisch (angstlösend), krampflösend, erregungs- und aggressionsdämpfend. Die Substanzen unterscheiden sich pharmakodynamisch kaum voneinander. Je nach Empfindlichkeit der Person und verabreichter Dosis können als unerwünschte Effekte Müdigkeit, Kopfschmerzen, Niedergeschlagenheit, Muskelschwäche, Benommenheit und Schwindel auftreten.

Vorteil der Substanzgruppe ist, dass es kaum zu Veränderung des Schlafmusters kommt und sie über eine große therapeutische Breite verfügen. Nachteile einer Benzodiazepin-Therapie ist das Auftreten des Rebound-Phänomens, was bedeutet, dass es nach dem Absetzen der Medikation wieder verstärkt zu den Anfangssymptomen kommt. So ist nach einer Langzeitanwendung der Tranquillanzien zum Beispiel das abrupte Absetzen höchst problematisch. Außerdem entwickelt sich innerhalb weniger Tage eine Low-dose-Abhängigkeit, das ist eine Gewohnheitsbildung bei niedrigen Dosen. In Kombination mit Alkohol tritt ein synergistischer (verstärkender) Effekt ein. Benzodiazepine besitzen ein physisches wie auch psychisches Abhängigkeitspotenzial.

Übersicht für die Selbstmedikation

Es bedarf bei folgenden Arzneimittelgruppen besondere Beachtung, da eine mögliche Gefährdung nicht immer auf den ersten Blick erkennbar ist:

+ Hypnotika aus der Gruppe der H1-Antihistaminika
+ Analgetika und Kombinationen mit Coffein
+ Abschwellende Nasentropfen oder -sprays
+ Laxanzien mit Ausnahme der Quellstoffe und Gleitmittel
+ Dextromethorphan (DMP)
+ Erkältungspräparate aus Kombinationen mit Analgetika, H1-Antihistaminika, Psychostimulanzien, DMP, Alkohol.

Wachstums- und Sexualhormone Beides sind Substanzgruppen, die in Bodybuilder-Kreisen und bei vielen Wettkampfsportarten als Dopingmittel zu finden sind. Gewünschte Effekte sind der schnelle Muskelaufbau und die Zunahme an Muskelmasse. Neben den Wachstumshormonen kommen Wirkstoffe aus der Gruppe der Androgene wie Testosteron und seine Derivate sowie Steroide zum Einsatz. Häufige schwerwiegende Nebenwirkungen der Anabolika-Therapie sind Muskelveränderungen am Herzen, die zum plötzlichen Herztod führen können sowie starker Blutdruckanstieg oder Gynäkomastie (Vergrößerung der Brustdrüsen beim Mann). Estrogene aus der Gruppe der weiblichen Sexualhormone werden in der Anti-Aging-Therapie verwendet, wobei ihre Effekte diesbezüglich noch weitgehend umstritten sind. Auch dieser Einsatz ist nicht unbedenklich, da eine Korrelation zu bestimmten Krebsarten diskutiert wird.

Psychostimulanzien Aufputschmittel wirken antriebssteigernd. Zu ihren Wirkungen zählen neben der Unterdrückung von Müdigkeit und Hunger hauptsächlich die Steigerung der Konzentrationsfähigkeit und der Leistung. Daraus ergeben sich Indikationen wie Asthma bronchiale, Narkolepsie (Schlafkrankheit, Schlummersucht) und ADHS (Aufmerksamkeit-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung). Wirkstoffe, die hier zum Einsatz kommen sind Amphetamin, Dexamfetamin und Methylphenidat. Sie unterliegen der Betäubungsmittelverschreibungsverordnung.

Andere Wirkstoffe, wie Pseudoephedrin, Amfepramon, Cathin oder Phenylpropanolamin werden als Appetitzügler (Anorektika) eingesetzt und sind nur gegen Verschreibung des Arztes erhältlich. Manche Erkältungspräparate enthalten eine Kombination verschiedener Ephedrin-Derivate. Sie bedürfen eines besonderen Augenmerkes, weil sie in der Selbstmedikation leicht zugänglich sind. So finden sich hier neben Coffein auch Pseudoephedrin oder Phenylephrin. Alle Wirkstoffe aus der Gruppe der Amphetamine sind indirekte Sympathomimetika und führen zur erhöhten Freisetzung von Noradrenalin.

Sie können aufgrund ihrer Lipophilie die Blut-Hirn-Schranke leicht überwinden, besitzen ein hohes Suchtpotential und führen sehr schnell zu einer Tachyphylaxie. Daneben kommen Psychostimulanzien außerhalb der medizinischen Anwendung beim Doping von Sportlern zum Einsatz. Es finden sich deshalb viele dieser Wirkstoffe auf der Liste der verbotenen Substanzen. Auch werden sie von Magersüchtigen missbräuchlich verwendet. Weitere Psychostimulanzien, wie die Partydrogen Ecstasy oder verwandte Stoffe gehören zu den illegalen Substanzen.

Alkoholhaltige Arzneimittel Ethanol dient in der Pharmazie der Herstellung von vielen flüssigen Arzneimittelzubereitungen als Konservierungs-, Extraktions- oder Lösungsmittel. Die Angaben des Alkoholgehaltes jeder Zubereitung sind wichtig, da es Menschen gibt, die mit dem Konsum von Alkohol Vorsicht walten lassen müssen. Auch kommt es zwischen Alkohol und vielen zentralwirksamen Substanzen zu Interaktionen, wodurch sich deren Effekte verstärken. Für „trockene Alkoholiker“ bergen solche Zubereitungen ein stark erhöhtes Rückfallrisiko.

Hypnotika in der Selbstmedikation Schlaf hat als regelmäßiger und wiederkehrender Erholungsvorgang für den gesamten Organismus einen hohen Stellenwert. So gibt es für die Behandlung der leichten Insomnie verschiedene pflanzliche Zubereitungen. Sie können aus Lavendelöl (Lavandulae aetheroleum), den Extrakten der Baldrianwurzel (Valerianae radix), des Hopfenzapfens (Lupuli flos), des Passionsblumenkrautes (Passiflorae herba) oder der Melissenblätter (Melissae folium) bestehen. Diese Zubereitungen machen nicht abhängig, jedoch wird deren Beteiligung als sogenannte „Einstiegsdroge“ diskutiert.

Die Hemmschwelle für andere Substanzen, die hypnotisch wirken, kann durch sie sinken. In der Selbstmedikation stehen Wirkstoffe wie Diphenhydramin und Doxylamin, die zur ersten Generation der H1-Antihistaminika gehören, zur Verfügung. Die Anwendungsdauer sollte auf einen Zeitraum von ein bis zwei Wochen beschränkt sein, da sich sehr schnell – nach wiederholter Anwendung – eine Toleranzentwicklung abzeichnet. Eine starke Dosissteigerung führt zu „paradoxen“ Reaktionen, also zentralerregenden Effekten, die selbst Halluzinationen auslösen können.

Gefährdet sind vor allem Jugendliche, die sich diese Arzneistoffe leicht besorgen können. In Internetforen kursieren Tipps zum missbräuchlichen Gebrauch. Um einen rauschähnlichen Zustand herbeizuführen, wird ein Vielfaches der üblichen Dosis empfohlen. Die Einnahme macht über kurz oder lang physisch und psychisch abhängig, wenngleich geringer als bei Benzodiazepinen.

Nichtopioide Analgetika Wirkstoffe der Gruppe nichtopioider Analgetika können rezeptfrei in der Apotheke erworben werden. Eingesetzt werden sie bei der Behandlung von Schmerzen aller Art, im Vordergrund steht jedoch die Behandlung von Kopfschmerzen. Hierunter fallen Arzneistoffe wie Paracetamol, Acetylsalicylsäure, aber auch Diclofenac. Die Einnahme nichtopioider Analgetika sollte auf zehn Tagen in einem Monat beschränkt sein und höchstens an drei hintereinander folgenden Tagen erfolgen.

Mit dieser Regel soll der Entstehung eines medikamenteninduzierten Kopfschmerzes und einer missbräuchlichen Anwendung vorgebeugt werden. Rezeptfrei wird oft mit harmlos verwechselt, jedoch können nichtopioide Analgetika bei chronischer Einnahme zu schweren Schäden an verschiedenen Organen führen. Als unser wichtigstes Ausscheidungsorgan sind vor allem die Nieren betroffen. Möglich sind, neben dem Auftreten eines akuten Nierenversagens, die Entstehung einer allergischen interstitiellen Nephritis, der toxischen Tubulusnekrose, der chronisch interstitiellen Nephritis, die auch als Analgetikanephropathie bezeichnet wird, und schließlich das chronische Nierenversagen, das mit der Dialyse endet.

Von Paracetamol wird hauptsächlich die Leber geschädigt. Bei einer chronischen oder auch missbräuchlichen Anwendung ist die körpereigene Entgiftung nicht mehr möglich und die Biotransformation bleibt auf der Stufe eines hepatotoxisch wirkenden Metaboliten stehen. Acetylsalicylsäure kann bei Asthmatikern zum Auslösen eines Asthmaanfalles oder bei Kindern zum Reye-Syndrom führen. Beim Reye-Syndrom handelt es sich um eine hepatische Enzephalopathie, die besonders häufig nach der Behandlung eines Virus-Infektes auftritt, wenn er mit ASS behandelt wurde.

Die Zusammenhänge hierfür konnten allerdings noch nicht endgültig geklärt werden. Der Umgang mit Schmerzmitteln in der Familie ist für Jugendliche und junge Erwachsene prägend. Ein schlechtes Beispiel der Eltern wird unreflektiert übernommen. Ganz häufig erfolgt obendrein eine Einnahme ohne wirklichen Grund, also prophylaktisch, um beim Sport oder auch im Alltag immer leistungsfähig zu sein. Ein erhöhtes Suchtpotential wird bei Kombinationspräparaten sehr kontrovers diskutiert, die neben einem Analgetikum zusätzlich Coffein enthalten. Es konnte aber an Migränepatienten nachgewiesen werden, dass eine Kombination aus ASS, Paracetamol und Coffein deutlich wirksamer war als die Gabe der Einzelwirkstoffe.

Nasentropfen und Nasenspray mit vasokonstriktorischer Wirkung Wirkstoffe wie Xylometazolin und Oxymetazolin sind direkte α1-Sympathomimetika und werden ausschließlich topisch zur Abschwellung der Nasenschleimhaut zum Beispiel bei einer Rhinitis eingesetzt. Es sind Wirkstoffe, die vorwiegend in der Selbstmedikation eingesetzt werden. Die Dauer ihrer Anwendung soll auf maximal sieben Tage beschränkt sein. Wichtig ist die Information, dass es beim Absetzen aufgrund der Hyperämie der Nasenschleimhaut zunächst zum Gefühl kommt, dass die Nase erneut verstopft sei.

Dies lässt binnen weniger Stunden aber nach, deshalb ist eine erneute Applikation nicht notwendig. Es entwickelt sich ein sogenannter Rebound, bei dem es zum verstärkten Wiederauftreten der Anfangssymptomatik, also der verstopften Nase kommt. Ein Dauergebrauch dieser Stoffe kann zur Austrocknung der Nasenschleimhaut und bis zu deren Atrophie, also Rückbildung führen.

Laxanzien Einem bestimmungsgemäßem Gebrauch eines Abführmittels bei akuter oder chronischer Obstipation steht nichts entgegen, egal aus welcher Stoffgruppe das Produkt gewählt wird. Das Laxans erfüllt seinen Zweck und beschleunigt je nach Wirkstoffgruppe auf unterschiedliche Weise die Stuhlentleerung. Werden sie jedoch missbräuchlich eingenommen, sind tiefe Eingriffe in die Physiologie des Dickdarms die Konsequenz. Durch den Einsatz beispielsweise zum Abnehmen, was man gelegentlich bei essgestörten Menschen findet, entwickelt sich ein Teufelskreis, der es den Betroffenen unmöglich macht auf die weitere Einnahme zu verzichten.

Überdosiert erzeugen Laxanzien Durchfälle. Es kommt zunächst zu erhöhten Elektrolyt- und Wasserverlusten, wobei hier vor allem die Konzentration der Natriumionen absinkt. Dies wiederum löst eine gesteigerte Aldosteronausschüttung aus, die daraufhin zu einer erhöhten Na+-Rückresorption und einer verstärkten K+-Sekretion führt. Die so entstandenen Kaliumverluste bedingen Verstopfungssymptome.

Die Drastika, eine Gruppe von pflanzlichen Abführmitteln aus der Wirkstoffgruppe der Anthracenderivate, sind bei einer langfristigen Anwendung besonders kritisch zu beurteilen. Klassische Abführtees enthalten Zubereitungen aus verschiedenen Aloearten (Aloe barbadensis, Aloe capensis), Rhabarberwurzel (Rhei radix), Faulbaumrinde (Frangulae cortex), Sennesblättern (Sennae folium) oder Sennesfrüchten (Sennae fructus). Sie werden unter dem „Deckmantel“ der pflanzlichen Zubereitungen verharmlost und unkritisch konsumiert. Laxanzien aus der Gruppe der Quellstoffe und Gleitmittel sind von den beschriebenen Abläufen nicht betroffen.

Fragen für den Alltag
Das Erkennen einer Arzneimittelabhängigkeit fällt vor allem in der Anfangsphase den Betroffenen oder auch deren Umfeld durchaus schwer. Folgende Fragen können dabei helfen und zum Nachdenken anregen:

+ Nehmen Sie das Arzneimittel heimlich?
+ Haben Sie sich einen Vorrat des Arzneimittels besorgt und verstecken diesen?
+ Macht es Ihnen Angst, wenn Sie feststellen, dass die Packung bald aufgebraucht ist und Sie noch keine neue geordert haben?
+ Besorgen Sie sich das Medikament bei verschiedenen Ärzten?
+ Packen Sie die Arzneimittel in andere, unauffälligere Verpackungen, damit Sie nicht in einen Erklärungsnotstand geraten?

Hustenstiller Dextromethorphan ist in Monopräparaten und vielen Erkältungskombinationspräparaten als hustenstillende Wirkkomponente enthalten. Es kann bei Überdosierung zu halluzinogenen Effekten kommen. Der unkritische Umgang bereitet häufig den Weg zu anderen Drogen.

Doping – Spiegel des Missbrauchs Sport ist zu einem harten Geschäft geworden und wird oft von Macht und Geld bestimmt. Die Erwartungen an Sportlern folgen dem Dogma „höher, schneller, weiter ...“. Leistungsgrenzen verschieben sich immer weiter nach oben. So zählen häufig nur noch die „Superlative“. Um diese Ziele erreichen zu können, wurden und werden gänzlich unreflektiert Hilfsmittel zur Leistungssteigerung eingesetzt und gesundheitliche Schädigungen billigend in Kauf genommen.

Die Hemmschwelle für Doping ist weiterhin niedrig. Sind es ehrliche Leistungen, die erbracht wurden oder ist der Erfolg das Ergebnis einer gezielten Arzneimitteltherapie? Wer weiß das schon. Doping durchzieht die gesamte Sportwelt. Alle bisherigen Versuche, Kontrollsysteme zu installieren und über die Gefahren aufzuklären, stießen immer wieder auf taube Ohren.

Warnzeichen für die Apothekenpraxis Im Apothekenalltag outen sich Kunden oft unabsichtlich durch ihr „verräterisches“ Verhalten. Bei apothekenpflichtigen Arzneimitteln kommt es häufig zum Kauf mehrerer Packungen und auch größeren Packungseinheiten, obwohl diese Medikation für einen Verwender allein viel zu viel ist. Hinweise diesbezüglich werden meist mit Argumenten niedergeschlagen wie „es sollen mehrere Personen damit versorgt werden“ oder auch „die Nebenwirkungen sind mir bereits bekannt und ich möchte mich lediglich bevorraten“.

Weiterhin kann bei verschreibungspflichtigen Wirkstoffen auffallen, dass Verschreibungen für dieselben Patienten ständig von verschiedenen Ärzten getätigt werden, also das klassische Doctor-Hopping praktiziert wird. Häufig wird auch der Wunsch geäußert, bereits belieferte Privatverschreibungen erneut zu beliefern. Oder die Bitte um ein Arzneimittel „ausnahmsweise“ mal ohne Rezept.

Dafür werden dann fadenscheinige Erklärungen geliefert, wie beispielsweise „es wurde vergessen das Rezept vor dem Wochenende beim Arzt abzuholen“ oder „die Arztpraxis war bereits geschlossen “ oder „der Doktor ist überraschend im Urlaub“ und so weiter ... Ausgetrickst wird auch das aufmerksamste Apothekenpersonal, wenn der Kunde die Beschaffung seiner Arzneien auf verschiedene Apotheken verteilt. Die Kreativität des Abhängigen bei den Ausreden, unbewusst oder bewusst, ist immer wieder erstaunlich.

Verantwortung Bei verschreibungspflichtigen Wirkstoffen verteilt sich die Verantwortung auf den verschreibenden Arzt und den Betroffenen sowie dessen Umfeld. Bei nichtverschreibungspflichtigen Wirkstoffen benötigt es die Aufmerksamkeit des gut geschulten Apothekenpersonals, das durch Information und Aufklärung hilft, Arzneimittelabhängigkeit zu vermeiden. Zwar ist jeder Mensch für sich selbst verantwortlich, doch auch wenn er sich gegen alle fachlichen Argumente verschließt, darf die Beratung nicht ausbleiben.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 04/18 ab Seite 34.

Bärbel Meißner, Apothekerin

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