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Krankheiten im Kindesalter

DURCH IMPFUNG FAST AUSGEROTTET

Noch in den 1950er Jahren war die Erkrankung für mehrere Tausend Fälle pro Jahr allein in Deutschland verantwortlich, seit 2002 ist Europa fast frei von ihr: die Kinderlähmung. Damit das so bleibt, wird die Impfung weiterhin empfohlen.

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Nach den Regionen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Amerika, Europa, Westpazifik und Südostasien gilt auch Afrika seit vergangenem Jahr offiziell als Polio-frei. Dies ist ganz wesentlich der weltweiten Initiative „GPAI (Global Polio Eradication Initiative)“ zu verdanken, die im Jahr 1988 gestartet wurde. Lediglich in der WHO-Region Naher Osten, insbesondere in Afghanistan und Pakistan, kommt es derzeit weiterhin zu Ausbrüchen.

Das Virus Erreger der Kinderlähmung sind Polioviren, die zur Familie der Picornaviridae gehören (pico = klein; rna = RNA als genetisches Material). Es werden drei Wildviren unterschieden, von denen die Typen 2 und 3 in den Jahren 2015 beziehungsweise 2019 für ausgerottet erklärt wurden. Allerdings zirkulieren heute neben dem Wildpoliovirus Typ 1 (in Afghanistan und Pakistan) in Afrika sogenannte cVDPV (circulating Vaccine-Derived Polio Virus). Dabei handelt es sich um Virenstämme, die ursprünglich von abgeschwächten Viren abstammen, die für die Schluckimpfung verwendet wurden.

Weil es sich eben um abgeschwächte Viren – und nicht um einen Totimpfstoff – handelt, können geimpfte Kinder andere Kinder nach einer Impfung damit anstecken. Wenn die Impfrate zu gering ist, kann sich das Impf-Virus immer weiter ausbreiten und dabei mutieren. Es besteht ein geringes Risiko, dass sich das Virus in sehr seltenen Fällen so verändert, dass es wieder schwere Erkrankungen mit Lähmungen auslösen kann. Daher wird heute keine Schluckimpfung mehr durchgeführt.

Übertragung Polioviren werden überwiegend als Schmierinfektion fäkal-oral übertragen, insbesondere bei schlechten hygienischen Bedingungen, da sich das Virus im Darm vermehrt und Infizierte große Virusmengen mit dem Stuhl ausscheiden. Auch bei gemeinsamem Benutzen von Geschirr besteht das Risiko einer Übertragung. Nachdem das Virus oral aufgenommen wurde, gelangt es in den Magendarmtrakt und von dort über die Blutgefäße in den gesamten Körper. Weil es sich zunächst auch im Rachenepithel vermehrt, ist auch eine aerogene Übertragung möglich. Die Inkubationszeit beträgt meist ein bis zwei Wochen.

Schlaffe Lähmung Der Krankheitsverlauf kann unterschiedlich schwer ausfallen:

  • Asymptomatischer Verlauf: Rund 95 Prozent aller Betroffenen entwickeln keinerlei Symptome und merken von der Infektion nichts. Sie entwickeln aber trotzdem Antikörper.
  • Abortive Poliomyelitis: Bei etwa vier bis acht Prozent verläuft die Erkrankung als sogenannte abortive Poliomyelitis, das heißt nach der Inkubationszeit kommt es zu unspezifischen, grippeähnlichen Symptomen mit Fieber, Hals-, Kopf- und Gliederschmerzen, Gastroenteritis und Übelkeit, die bei fast allen Patienten von selbst wieder abklingen.

Bei rund zwei bis vier Prozent infiziert das Poliovirus jedoch auch das zentrale Nervensystem. Hier unterscheidet man die nichtparalytische und die paralytische Form:

  • Nichtparalytische Poliomyelitis: Hier kommt es wiederum drei bis sieben Tage später zu einer Meningitis-ähnlichen Symptomatik mit Fieber, Nackensteifigkeit, Rückenschmerzen und Muskelkrämpfen. Auch hier ist die Prognose gut, dass diese Symptome ohne Folgeschäden von selbst wieder abklingen.
  • Paralytische Poliomyelitis: Bei einer Minderheit von 0,1 bis ein Prozent der Patienten stellen sich die gefürchteten Lähmungen ein, wenn das Virus bei ihnen die Motoneuronen infiziert, die für die Steuerung der Muskeln zuständig sind. Weil die Muskeln keine Signale mehr von den Motoneuronen bekommen, bleiben sie schlaff und gelähmt. Am häufigsten sind die Beine betroffen. Es sind aber auch Lähmungen der Arm-, Bauch-, Thorax- und Augenmuskeln möglich. Meist bilden sich die Lähmungen nicht vollständig zurück. Im Rahmen eines Postpoliosyndroms kann es auch Jahre oder sogar Jahrzehnte nach einer überstandenen Erkrankung wieder zu einer Zunahme der Lähmungen kommen.

Eiserne Lunge Wenn die Atemmuskulatur beteiligt war, wurden die Patienten bis in die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts hinein mittels einer „Eisernen Lunge“ beamtet. Dafür lagen sie vom Hals bis zu den Füßen in einer Röhre aus Stahl, die am oberen Ende abgedichtet war. Indem aus dem inneren der Röhre Luft abgesaugt und dadurch ein Unterdruck erzeugt wurde, erweiterte sich das Volumen des Brustkorbs und Luft strömte in die Lunge. Zum Ausatmen wurde Luft in die Röhre gepresst und so ein Überdruck erzeugt, sodass die Luft wieder aus der Lunge entwich.

Viele Patienten benötigten diese Form der Beatmung nur während der akuten Phase der Erkrankung, nicht wenige waren jedoch langfristig für mehrere Stunden pro Tag darauf angewiesen, zum Beispiel zum Schlafen. So auch der Amerikaner Paul Alexander, der sich 1952 im Alter von sechs Jahren mit Polio infiziert hatte und kürzlich im Alter von 75 Jahren verstorben ist. Er war damit einer der letzten Betroffenen, die immer noch eine eiserne Lunge genutzt haben.

Prävention durch Impfung Eine Therapie für die Kinderlähmung existiert bis heute nicht. Umso wichtiger ist die Prävention durch Impfung. Nach einem ersten injizierbaren Totimpfstoff gegen Polio, entwickelt durch Dr. Jonas Salk Mitte der 1950er Jahre, entwickelte Dr. Albert Sabin Anfang der 1960er Jahre die erste Schluckimpfung gegen Polio, die sich rasch weltweit durchsetzte. Auch in Deutschland sank die Anzahl der Infektionen nach Einführung dramatisch. Weil für die Impfung abgeschwächte Lebendviren auf ein Stück Zucker gegeben wurden, lautete der Slogan „Kinderlähmung ist grausam – Schluckimpfung ist süß“.

Nachdem es durch die abgeschwächten Lebendimpfviren jedoch auch hier in sehr seltenen Fällen zu Vakzine-assoziierten paralytischen Poliomyelitis-Erkrankungen gekommen war, wird seit 1998 bei uns wieder ein injizierbarer Totimpfstoff für die Routineimpfung empfohlen. Dieser ist heute im Sechsfach-Impfstoff enthalten, der im Alter von zwei, vier und elf Monaten gegeben wird und außerdem gegen Diphtherie, Tetanus, Keuchhusten, Haemophilus influenzae B und Hepatitis B schützt. Im Alter von neun bis sechzehn Jahren wird eine Auffrischung mit einem Polio-haltigen Impfstoff empfohlen.

Zudem empfiehlt die STIKO eine Immunisierung für Erwachsene, die nicht oder unvollständig gegen Polio geimpft sind. Schließlich sollten sich auch Menschen impfen lassen, die in Länder reisen, in denen Polio weiterhin zirkuliert. Die letzte Erkrankung durch einen Wildvirus in Deutschland wurde im Jahr 1990 registriert. Weil allerdings jederzeit die Möglichkeit besteht, dass das Wildpoliovirus Typ 1 oder ein cVDPV wieder eingeschleppt werden, ist eine konsequente Überwachung und Impfung weiterhin notwendig, bis die Erkrankung weltweit ausgerottet ist.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 08/2021 ab Seite 94.

Dr. rer. nat. Anne Benckendorff, Medizinjournalistin

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