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Gifttiere

DER HEILENDE BISS

Schlangentoxine waren schon in der Antike ein fester Bestandteil der Heilkunst. In der modernen Medizin erfahren sie zurzeit eine Renaissance – zum Beispiel bei der Bekämpfung von Tumoren und in der Schmerztherapie.

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Der griechische Begriff „pharmakon“ bedeutet sowohl „Arznei“ als auch „Gift“. Tatsächlich liegen diese beiden Welten eng beieinander. So kann Schlangengift in großen Mengen einen Menschen lähmen oder gar töten. Niedrig dosiert und pharmakologisch aufbereitet kann es jedoch Leben retten.

Wirkung je nach Zusammensetzung Schlangengifte bestehen hauptsächlich aus Peptiden und Proteinen, davon über 40 mit enzymatischer Wirkung. Dabei ist der Giftcocktail je nach Gattung unterschiedlich. So zerstören die Toxine von Vipern zum Beispiel die Blutzellen und die Gefäße ihrer Opfer und bewirken so innere Blutungen und Kreislaufschock. Die bei Kobras vorkommenden Kardiotoxine hingegen verursachen einen Herzstillstand, während die lähmenden Neurotoxine von Seeschlangen zum Atemstillstand führen können.

Ein Symbol, so alt wie die Menschheit Eine Schlange, die sich um einen Stab windet – noch heute ist der Äskulapstab das Symbol der heilenden Zunft. Die Fähigkeit der Schlange, sich zu häuten, sich quasi aus dem Alten neu zu erfinden, machte sie schon in der Antike zum Sinnbild für die Selbsterneuerung und damit für das, was die Heilkunde erreichen wollte. Es gab Salben, Tinkturen, Tränke aus allen Teilen der Schlange, auch aus ihrem Gift.

In der Traditionellen Chinesischen Medizin sind sie seit jeher fest verankert, und Heilpraktiker nutzen verdünntes Schlangengift immer noch in der HORVI-Enzymtherapie, die bei Allergien, Autoimmunerkrankungen, aber auch Krebs helfen soll. Doch Schlangengift hat auch in der Schulmedizin eine fast fünfzigjährige Tradition.

Vom Gegengift zum Arzneimittel Sie begann mit Hugh Alistair Reid, einem britischen Arzt, der auf der malaiischen Halbinsel an Gegengiften zu Schlangenbissen forschte. Er entdeckte dabei, dass eines der Toxine der Malayischen Mokassinotter blutverdünnend wirkte. Schon bald interessierte sich die Pharmaindustrie für das Toxin und entwickelte daraus einen Wirkstoff, der ab 1967 bei tiefer Venenthrombose eingesetzt wurde. In den 1980er-Jahren verschwand er zwar wieder vom Markt, doch das Toxin wird bis heute als Gerinnungshemmer erforscht, zurzeit in einer Phase- III-Studie bei Hirninfarkten.

Vorlage für ACE-Hemmer Die meisten Leben rettet Schlangengift jedoch in der Herz-Kreislauf-Medizin. In den 1970er-Jahren stellte man fest, dass brasilianische Plantagenarbeiter nach dem Biss der Jararaca-Lanzenotter mit einem Kreislaufkollaps zusammenbrachen. Der Grund war eine spezielle Giftkomponente, die das Angiotensin- konvertierende Enzym im Körper hemmt. Da ACE für die Blutdruckregelung essenziell ist, führt seine Hemmung durch den Giftstoff zu einem lebensbedrohlichen Blutdruckabfall. Die Medizin machte sich diese Wirkung bei arterieller Hypertonie und Herzinsuffizienz zunutze.1981 kam der erste orale ACE-Hemmer auf den Markt, der auf der Molekülstruktur des Lanzenottertoxins basierte.

Gewinnung aufwändig Das Gift bilden Schlangen in Oberlippendrüsen, durch die hohlen Zähne im Oberkiefer injizieren sie es in ihr Opfer. Um es für die Industrie zu gewinnen, werden die Tiere auf speziellen Farmen „gemolken“. Dabei wird der Kopf des Tieres über einen Behälter gehalten, dann werden die Giftdrüsen massiert, bis das Toxin in den Behälter fließt. Eine Schlange kann man höchstens sechs Mal pro Jahr melken. Etwa 30 Prozent der gewonnenen Flüssigkeit wird zu Seren verarbeitet, die als Gegengifte bei Schlangenbissen eingesetzt werden. 70 Prozent werden für Heilmittel verwendet.

Kampf gegen Schmerzen und Krebs Die schwarze Mamba ist eine der gefährlichsten Giftschlangen der Welt. Ihr Biss kostet in Afrika jedes Jahr Tausende von Menschen das Leben. Doch die Peptide, die lähmend auf Nerven und Herzmuskel wirken, könnten Morphine als Schmerzmittel ablösen. Isolierte Peptide zeigten im Tierversuch eine starke, schmerzstillende Wirkung ohne schädliche Nebenwirkungen. Wissenschaftler gaben den Peptiden den Namen „Mambalgine“. An der Universitätsklinik Münster forscht man seit einigen Jahren an einem Schlangengiftmedikament gegen Krebs.

Grundlage dafür sind Aminosäureketten, die die Forscher „Disintegrine“ nennen. Sie binden sehr spezifisch an als Integrine bezeichnete Rezeptoren und hemmen ihre Funktion. Integrine regeln die Signalübertragung zwischen den Zellen und ihrer Umgebung. So spielen sie zum Beispiel eine wichtige Rolle bei der Blutgerinnung oder leiten weiße Blutkörperchen gezielt zu Entzündungsherden. Andere Integrine wiederum sind an der Neubildung von Blutgefäßen (Angiogenese) maßgeblich beteiligt. Genau dort knüpft die Krebsforschung an: Ziel ist es, die Disintegrine so einzusetzen, dass sie die Blutgefäßbildung von Tumorzellen unterbinden und der Tumor so gezielt ausgehungert werden kann.

Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 01/14 ab Seite 88.

Dr. Holger Stumpf, Medizinjournalist

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