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Berühmte Giftmorde

DER FALL NOZIÈRE

Violette Nozière war jung, schön und das geliebte Kind ihrer Eltern. Und doch versuchte sie beide an einem Sommertag des Jahres 1933 mit einem Barbiturat umzubringen. Ihr Motiv blieb zunächst im Dunkeln.

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Die Barbitursäure, als Derivat in den 1930er und 40er Jahren als Schlafmittel sehr in Mode, war 1864 vom Chemiker Adolf von Baeyer entdeckt worden und er hatte den neuen Stoff in einem Anflug von Romantik nach seiner derzeitigen Geliebten benannt, die Barbara hieß. 1903 synthetisierte sein Kollege Emil Fischer die Barbiturate – endlich konnten Menschen mit Schlafproblemen mit diesen Mitteln Hilfe finden. Dass die kleinen Tabletten auch ein erhebliches toxisches Potential bargen, blieb nicht lange unentdeckt.

Das Wunschkind Violette Nozière wurde am 11. Januar 1915 in der französischen Bourgogne geboren. Ihre Mutter Germaine war Schneiderin und als diese den Mechaniker Baptiste Nozière kennenlernt, schien sie endlich einmal auf der Sonnenseite gelandet zu sein, denn eine erste Ehe war bereits aufgrund der Gewalttätigkeit des Mannes geschieden worden. Als Germaine und Baptiste vor dem Standesbeamten die Ehe eingingen, war die junge Frau im vierten Monat schwanger. Bald zog die kleine Familie nach Paris. Violette wurde von ihren Eltern vergöttert.

Sie besuchte die Grundschule, schließlich das Gymnasium, kam in die Pubertät – und schon bald fiel auf, dass ihre schulischen Leistungen erheblich nachgelassen hatten. Es war wie ein Knick in ihrem Leben; im Sommer 1931 wurde sie von der Schule geworfen und im Abschlusszeugnis als „faul, hinterhältig, heuchlerisch und schamlos“ bezeichnet. Violette gelang es, ihren Eltern einzureden, dass dies alles nur einem Komplott der Lehrer zu verdanken sei, unter anderem, weil sie ihrem Mathematikprofessor nicht zu Willen gewesen sei. Sie wechselte auf ein anderes Gymnasium, in einen Stadtteil, in dem die Prostitution blühte.

Auf Abwegen Und so nahm die Geschichte ihren Lauf: Die bildhübsche 16-Jährige entdeckte ihre Macht über Männer, ließ den Schulunterricht sausen und verkaufte ihren Körper für Geld. Die Eltern bekamen davon nichts mit. Als sie die beiden auch noch zuhause bestohlen hatte, wartete die Mutter täglich mittags vor dem Schulgelände, um ihre Tochter abzuholen. Violette gelang es immer, sich unauffällig unter die herausströmenden Schülerinnen zu mischen, sodass ihr Fehlen nicht auffiel.

Eine Zeitung bot ihr an, Nacktbilder von ihr zu veröffentlichen, das Mädchen hatte nichts dagegen. 1932 wurde bei ihr Syphilis diagnostiziert. Die Minderjährige überredete den Arzt Dr. Henri Deron, ihr eine Jungfräulichkeitsbescheinigung auszustellen, damit ihre Eltern keinen Verdacht schöpfen. Gleichzeitig wurde der Doktor ihr Liebhaber. Deron zitierte den Vater in die Praxis und machte ihm weis, die Syphilis seiner Tochter sei eine erbliche Krankheit und man müsse Medikamente dagegen einnehmen.

Das Schlafpulver Dies war der Moment, in dem Violette Nozière ihre mörderischen Absichten erstmals in die Tat umsetzte. Sie besorgte sich in einer Apotheke Somenal, ein Schlafmittel mit dem Wirkstoff Phenobarbital – und verkaufte es den Eltern als Mittel gegen Syphilis. Die Eltern schluckten brav die pulverisierten Tabletten – und schliefen sofort ein. Doch die Dosis war zu gering, sie erwachten wieder und Violette musste einen neuen Versuch starten. Inzwischen hatte Amors Pfeil die junge Französin getroffen. Als sie ihren meist mittellosen Liebhaber Jean Dabin kennenlernte, fielen bei ihr alle Hemmungen: Sie log und stahl für ihn, steckte ihm Geld zu und entwendete Gegenstände aus der Wohnung ihrer Eltern.

Weiterhin hegte sie den Plan, die beiden zu vergiften, wieder mit Somenal. Violette kaufte noch einmal drei Packungen des Schlafmittels, zerkleinerte dieses und füllte das Pulver in zwei Pulvertütchen. Für sich selbst füllte sie ein harmloses „blutreinigendes“ Mittel ab und markierte das Behältnis mit einem Kreuz. Nach dem Abendessen schluckte die Familie ihr vermeintlich hilfreiches Medikament – die Mutter allerdings nur die Hälfte, was ihr das Leben rettete. Violette öffnete noch den Gashahn und verursachte dadurch ein kleines Feuer. Es sollte so aussehen wie ein gemeinschaftlicher Suizid.

Fingierter Selbstmord Doch die Polizei schöpfte schnell Verdacht. Jean Dabin trug den Ring von Violettes Vater am Finger, laut Haushaltsbuch der Mutter fehlte beständig Geld und überhaupt zeigte der Gaszähler des Mietshauses an, dass der Gasausstoß für einen Suizid in keiner Weise ausgereicht hätte. Die Gendarmen fanden in der Wohnung das Tütchen mit dem vermeintlichen Syphilis-Mittel und ließen es im toxikologischen Institut analysieren. Der Chemiker Professor Kohn-Abrest konnte Phenobarbital nachweisen.

Noch am selben Tag wurde Violette des Mordes an ihrem Vater beschuldigt – und nach einer weiteren Woche fand man die junge Frau dann auch, denn diese war bereits untergetaucht. In einen schwarzen Pelzmantel mit großem Kragen gewandet vergrub die junge Frau ihr blasses, schönes Gesicht darin und gestand sehr schnell: „Ich bin schuldig, ich gebe es zu, also lassen Sie mich in Ruhe.“ Und sie sagte: „Ich wollte meine Mutter nicht vergiften.“ Die große Frage, die sich die Gendarmen nun stellten, lautete: Warum hat Violette Nozière den unbändigen Wunsch gehabt, ihren Vater umzubringen?

Im Gegensatz zu Benzodiazepinen aktivieren Barbiturate den GABA-A-Rezeptor in hohen Dosen unabhängig vom natürlichen Liganden. Das erklärt ihre hohe Toxizität.

Der wahre Grund Erst nach hartnäckiger Befragung rückte Violette mit der Wahrheit heraus: Ihr Vater missbrauchte sie sexuell, seit sie 12 Jahre alt war. Mindestens einmal pro Woche passte er die Abwesenheit der Mutter ab und verging sich entweder in ihrem Kinderzimmer oder in der Gartenhütte an ihr. Die Beamten durchsuchten nochmals Wohnung und Garten und fanden einen Indizienbeweis, der den Schluss nahelegte, dass ihre Angaben der Wahrheit entsprachen. Im Oktober 1934 startete der Strafprozess gegen die mittlerweile 19-Jährige; obwohl die Mutter um „Erbarmen mit ihrem Kind“ bat, wurde Violette Nozière nach nur einstündiger Beratung zum Tode durch das Schafott verurteilt.

Ihr Anwalt legte Revision ein, die abgelehnt wurde und reichte schließlich beim französischen Staatspräsidenten ein Gnadengesuch ein: Schließlich hatte Violette einen Grund für die Ermordung ihres Vaters gehabt. Das Staatsoberhaupt wandelte das Todesurteil an Weihnachten 1934 schließlich in lebenslange Zwangsarbeit um. 1953 wurde Violette Nozière daraus rehabilitiert. Ein Krebsleiden machte ihrem Leben schließlich 1966 ein Ende. Der französische Filmemacher Claude Chabrol nahm sich des Stoffes 1978 in einem viel beachteten Film an; Daten und Fakten sind jedoch künstlerisch adaptiert.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 05/19 ab Seite 126.

Alexandra Regner, PTA und Journalistin

Im Gegensatz zu Benzodiazepinen aktivieren Barbiturate den GABA-A-Rezeptor in hohen Dosen unabhängig vom natürlichen Liganden. Das erklärt ihre hohe Toxizität.

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