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BLICK IN DIE ZUKUNFT

Das Stichwort „Big Data“ hat jeder schon einmal gehört. Aber wissen Sie, was „precision medicine“ bedeutet und welche ethischen Fragen sich in Sachen personalisierte Medizin im Hinblick auf die Gendiagnostik stellen?

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Um diese Fragen kreiste die 5. Jahrestagung der vom Zeit-Verlag ausgerichteten Veranstaltung „House of Pharma & Healthcare“, die am 13. September in Frankfurt stattfand. Um gleich auf das erste Stichwort einzugehen: „precision medicine“ bedeutet wortwörtlich „präzise Medizin“. Damit ist gemeint, dass bei der Entwicklung von Arzneimitteln und Impfstoffen ein besonderer Ansatz gewählt wird, bei dem die entsprechenden Therapien gezielt auf die genetischen Merkmale jedes einzelnen Patienten abgestimmt werden.

Die Grundlagen dieser präzisen Methode bilden riesige Datenmengen , die unter anderem in den sogenannten Registern gesammelt werden. Aus der Vergangenheit bekannt ist beispielsweise das mittlerweile abgeschaffte Krebsregister der DDR. Zwar gibt es auch heute noch Krebsregister, aber diese werden nicht bundesweit erhoben, sondern in den jeweiligen Bundesländern. Aber nicht nur die Zusammenführung der Daten stellt ein Problem dar.

Forschungsstandort Deutschland In der Podiumsdiskussion „Game Changer Precision Medicine und Big Data – Wird Deutschland abgehängt?“ waren sich die vier Experten weitgehend darin einig, dass der Forschungsstandort Deutschland beispielsweise im Vergleich zur USA derzeit abgeschlagen ist. Insbesondere Professor Ernst Hafen vom schweizerischen Institut für Molekulare Systembiologie warnte vor der „digitalen Feudalherrschaft“ von Konzernen wie etwa Google und Facebook.

Er plädierte für das Recht der „digitalen Selbstbestimmung“. Seiner Meinung nach sind unsere persönlichen Daten ein neuer Maßstab, der aber nur in der Gesamtheit vieler Menschen als Wert Relevanz erlangt. Generell war sich die Runde darin einig, dass noch nicht einmal die prinzipiellen Fragen, wer beispielsweise die Daten wie auswertet, beantwortet sind. Ist es denkbar, dass wir die Auswertung komplett Computern überlassen oder erhalten die Ärzte von diesen nur Handlungsvorschläge, die sie interpretieren und darauf basierend ihre Therapieentscheidungen treffen?

Obwohl das Thema noch mit großer Unsicherheit behaftet zu sein scheint, gab es Zustimmung zur These von Siemens CEO Dr. Bernd Montag, wonach die präzise und personalisierte Medizin in Verbindung mit Big Data „uns Deutschen auf den Leib geschneidert ist“. Und zwar deshalb, weil wir – ähnlich wie im Maschinenbau – grundsätzlich zu einer großen Genauigkeit und Präzision neigen.

Biologika-Markt: contra dem Spardiktat Schon in der Anmoderation zu diesem Workshop wurde die Ambivalenz, die in der Entwicklung des Biologika-Marktes steckt, deutlich: So wies die Gesprächsleiterin Anja Moeller darauf hin, dass das Einsparpotential von Biologika „wöchentlich nach unten“ korrigiert wird. Genau dieser spezielle, politisch begründete Blick auf Biologika, der fast ausschließlich den ökonomischen Aspekt berücksichtigt, wurde sowohl vom Gastroenterologen Professor Dr. Franz Hartmann, als auch von Dr. Martin Weiser vom Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH) kritisiert.

Die Argumentation beider zielte darauf ab, dass nur die optimale Therapie auch gesundheitsökonomisch den größten Nutzen bringt. So ist bei einem optimal versorgten Patienten etwa die Adhärenz (Therapietreue) in der Regel besser, als bei Patienten, die sich eher schlecht behandelt fühlten. Ein anderes Beispiel ist die Frühverrentung: Wird der Patient bestens behandelt, kann er diese umgehen, sodass die wirtschaftliche Kosten- Nutzen-Rechnung für unsere Gesellschaft deutlich besser ausfällt, als wenn man nur die kurzfristigen Sparziele einer Verordnung vor Augen hat.

Dr. Anja Stangenfeld hob die Bedeutung von Registern im Bereich der Biologika hervor: Im Gegensatz zu klinischen Studien würde hier der Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit auch im Hinblick auf den Langzeitverlauf unter Alltagsbedingungen erfasst. Dass der Markt der Biologika von so hoher Relevanz ist, wird deutlich, wenn man weiß, dass schon in naher Zukunft der Patentschutz für etliche Biologika ausläuft und Experten deshalb erwarten, dass bis zu 400 Biosimilars kommen werden.

Cannabinoide leidet unter Vorurteilen Offensichtlich ist die Gabe von Cannabinoiden für Mediziner mit frustrierenden Erfahrungen verbunden. Das zumindest war der Eindruck, den der Vortrag von Professor Dr. med. Joachim Nadstawek „Cannabinoide in der Medizin – Risiken und Chancen“ vermittelte. So schilderte er den Fall von zwei Patienten: Der eine war ein Nierenpatient, der unter Schmerzen, Gewichts- und Gelenk- sowie etlichen anderen Problemen litt, während sein Bruder einen schweren Motorradunfall hatte.

Während die Krankenkasse im Falle des Motorradfahrers keine Bedenken hatte, dass ihm Cannabinoide verordnet wurde, gelang es dem Professor nicht, die Kasse davon zu überzeugen, auch dem Nierenpatienten mit diesem Präparat zu helfen. Wie das Leben nun so spielt, begann letztgenannter nun von den Cannabinoiden seines Bruders zu „naschen“. Und zwar mit dem Ergebnis, dass sich sein Gesundheitszustand rapide verbesserte. Aktuell führt der Mann eine Klage gegen die Krankenkasse vor dem Sozialgericht. Obwohl die Verwendung von medizinischem Cannabis seit 2010 erlaubt ist, werden derzeit lediglich rund 5000 Menschen damit behandelt.

Professor Nadstawek erklärt sich diesen marginalen Einsatz mit Vorurteilen gegenüber Cannabis und dem mangelnden Wissen sowohl auf Seiten der Ärzte als auch der Patienten. Aus wissenschaftlicher Sicht jedenfalls ist die Gabe von Cannbinoiden bei folgenden Top-five- Krankheitsbildern sinnvoll: Multiple Sklerose, Hyperaktivität (bei Erwachsenen), chronischen Schmerzen, dem Tourette-Syndrom und depressiven Verstimmungen.

Ethische Fragen bei individueller Gendiagnostik „Warum wird eigentlich bei der individuellen Gendiagnostik immer von einem Geschäftsmodell gesprochen? Bei einer Hüftoperation oder einer homöopathischen Erstanamnese fragt doch auch niemand nach einer ethischen Begründung.“ Dass die Gendiagnostik eben doch mit einer Reihe von ethischen Fragen verknüpft ist, verdeutlichte der Vortrag des stellvertretenden Vorsitzenden der zentralen Ethikkommission, Professor Dr. Jochen Taupitz.

So ist es vom Gesetzgeber etwa vorgesehen, dass erbliche Eigenschaften diagnostiziert werden können, somatische (körperliche) dagegen nicht. Wenn aber beispielsweise ein Krebspatient sein Tumorgewebe einem gendiagnostischen Verfahren unterziehen will, werden dabei sowohl somatische als auch erbliche Eigenschaften diagnostiziert. Hier entsteht eine elementare Rechtsunsicherheit. Ein weiteres Beispiel für ethische Komplikationen: Darf die gendiagnostische Analyse ausschließlich beim Arzt in einer Face-to-face-Situation in Auftrag gegeben werden oder gibt es im Rahmen der Telemedizin auch andere Wege?

Und was ist, wenn der Mensch, der dem Arzt im Monitor gegenübersitzt, nicht sein eigenes Haar, sondern ein Haar seines Chefs zur Untersuchung einschickt? Nicht ausreichend geklärt scheint derzeit auch die Beratungssituation zu sein: Sollen Ärzte, die in Schnell-Ausbildungen qualifiziert werden, diese sensiblen Dienstleistungen übernehmen oder brauchen wir extra geschulte genetische Berater? Wie man sieht: Gerade bei der Gendiagnostik sind noch jede Menge ethische Fragen zu klären.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 11/16 ab Seite 106.

Claus Ritzi, Pharmajournalist (wdv)

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