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Psychologie in der Apotheke

WER SIND WIR?

Im Apothekenalltag begegnen Sie den unterschiedlichsten Menschen und jeder von ihnen hat seine eigene Persönlichkeit. Doch wie ist dieses psychologische Konstrukt definiert? Was ist Persönlichkeit?

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Jeder Mensch ist ein Unikat mit verschiedenen Marotten, Talenten, Fähigkeiten, Ansichten, Gewohnheiten oder Mo- tiven – im weitesten Sinne machen diese Wesenszüge die Persönlichkeit aus. Die Bezeichnung „Persönlichkeit“ stammt vom lateinischen Begriff „persona“ ab und bedeutet übersetzt Maske. Laien verstehen unter Persönlichkeit meist die soziale Attraktivität von Individuen und beschreiben einen Menschen zum Beispiel folgendermaßen: „Annette ist klein und gutaussehend, allerdings spricht sie oft zu viel, wobei sie sehr lustig sein kann.“ Hierbei handelt es sich um die Bewertung einer Person, die auf Vergleichen oder Interaktionen mit anderen Individuen beruht.

Wissenschaftliche Definition Die Persönlichkeit ist eng mit der „Identität“, der kohärenten Vorstellung eines Individuums von sich selbst, verknüpft. Die Identitätsbildung gilt laut Erikson als zentrale Entwicklungsaufgabe des Jugendalters, wird prinzipiell aber als lebenslanger Prozess gesehen. Psychologen definieren Persönlichkeit anhand von Eigenschaften (für das betreffende Individuum typische Merkmale). Gordon Allport, ein prominenter Forscher auf dem Gebiet der Persönlichkeitspsychologie, schlug 1961 folgende Begriffsbestimmung vor: „Persönlichkeit ist die dynamische Ordnung derjenigen psychophysischen Systeme im Individuum, die sein Verhalten und Denken determinieren.“ Die dynamische Ordnung im Individuum steht dabei für Anpassungen an Veränderungen im Leben, wie etwa das Älterwerden – die Persönlichkeit stellt demnach ein aktives und reaktives System dar. Mit psychophysischen Systemen ist gemeint, dass Psyche und Körper auf komplexe Weise interagieren und das Verhalten hervorrufen.

Determinieren bedeutet in diesem Zusammenhang, dass ein relativ zeitstabiles Muster besteht, das für das Individuum typisch ist. Die Stabilität ist für die Persönlichkeitsforschung von besonderer Bedeutung, da ohne sie alle Versuche der Messung von Persönlichkeit sinnlos wären. Die Definition von Allport stellt nur eine von zahlreichen Versuchen dar, die Persönlichkeit zu beschreiben. Trotz des Fehlens einer universell gültigen Begriffsbestimmung ist man sich unter Fachleuten darüber einig, dass der Begriff Persönlichkeit ein psychologisches beziehungsweise hypothetisches Konstrukt beschreibt, welches das Verhalten durch seine Körper-Psyche-Interaktion beeinflusst. Typisch für das psychologische Konstrukt der Persönlichkeit: Es ist zwar nicht direkt beobachtbar, beeinflusst und erklärt jedoch das Verhalten eines Individuums.

Big Five Die vielen Adjektive, mit denen Menschen beschrieben werden, lassen sich auf fünf Grundachsen mit den bipolaren Eigenschafts-Dimensionen Extraversion, Verträglichkeit, Offenheit für Erfahrung, Neurotizismus sowie Gewissenhaftigkeit komprimieren. Sie charakterisieren die Struktur der Persönlichkeit. Im Englischen wird das Modell nach den Anfangsbuchstaben der englischen Begriffe auch OCEAN (Openness to experience, Conscientiousness, Extraversion, Agreeableness und Neuroticism) genannt. Der Faktor Offenheit für Erfahrung gibt an, wie aufgeschlossen Individuen gegenüber Neuem sind (Pole: kreativ, intellektuell und offen versus einfach, oberflächlich und nicht intelligent). Die Gewissenhaftigkeit kennzeichnet sich durch Genauigkeit, Zielstrebigkeit und Selbstkontrolle (Pole: organisiert, verant- wortungsbewusst und vorsichtig versus sorglos, leichtsinnig und verantwortungslos), während die Dimension Extraversion die Aktivität in sozialen Beziehungen darstellt (Pole: gesprächig, energiegeladen und durchsetzungsfähig versus ruhig, zurückhaltend und schüchtern). Auch der Faktor Verträglichkeit beschreibt eine zwischenmenschliche Komponente des Modells, bei der es um die kooperativen Fähigkeiten sowie um die Kompromissbereitschaft von Personen geht (Pole: mitfühlend, freundlich und herzlich versus kalt, streitsüchtig und unbarmherzig). Die Ausprägung des Neurotizismus gibt an, wie ein Mensch mit negativen Erfahrungen umgeht und wie groß seine emotionale Stabilität ausfällt (Pole: stabil, ruhig und zufrieden versus instabil, ängstlich und launisch).

The End of History Illusion Der Wissenschaftler Daniel Gilbert von der Harvard-Universität fand mit seinem Team heraus, dass die meisten Menschen aller Altersstufen der Meinung sind, sie hätten sich in der Vergangenheit maßgeblich verändert. Anstehende Veränderungen in der Zukunft unterschätzen viele allerdings.

Geduld erforderlich Die Persönlichkeit verändert sich über die gesamte Lebensspanne, wobei die Wandlung mit den erlebten Ereignissen (Einflüsse von Erfahrungen, von Mitmenschen sowie dem individuellen Lebensweg) zusammenhängt. Prägend sind unter anderem die Geburt eines Kindes, der Tod einer Bezugsperson oder der Einstieg in den Beruf. Die Wesenszüge verändern sich allerdings nicht von jetzt auf gleich und schon gar nicht von einem Extrem zum anderen, stattdessen ist der Prozess langwierig. Eine Möglichkeit der Persönlichkeitsveränderung besteht darin, sich Herausforderungen zu stellen, von denen man erwartet, dass sie die gewünschte Eigenschaft mit sich bringen. Der Forscher Brent Roberts von der Universität Illinois führte eine Metaanalyse mit über 200 Studien und mehr als 20 000 Probanden, die sich in psychotherapeutischer Behandlung befanden, durch. Es zeigte sich, dass Psychotherapien die Persönlichkeit unabhängig von der gewählten Therapieform zum Wandel anregen. Voraussetzung für einen „Umbau“ der Persönlichkeit ist zunächst der Wille sowie das ausdauernde Engagement, die (unerwünschten) Eigenschaften abzulegen beziehungsweise sich neue Merkmale anzu- eignen. Außerdem sind die Erkenntnis und das Gefühl, die Wesenszüge ändern zu können, von entscheidender Bedeutung. Schließlich müssen die neuen Verhaltensmuster automatisiert und in den Alltag integriert werden (Gewöhnung).

Neue Dimensionen Psychologen und Biowissenschaftler (Amaral et al., 2018) haben kürzlich anhand der Daten von mehr als 1,5 Millionen Menschen vier neue Persönlichkeitstypen identifiziert (durchschnittlich, reserviert, Vorbild oder selbstzentriert). Der Durchschnittsmensch ist leicht zu kränken, emotional nicht unbedingt stabil, gibt sich gesellig, ist jedoch nicht offen für neue Erfahrungen. Die den „Vorbildern“ zugeordneten Personen sind verträglich, verlässlich, offen, gesellig, aufgeschlossen gegenüber Neuem und wenig kränkbar. Das reservierte Individuum gilt als langweilig, gewissenhaft, kompromissbereit, emotional stabil, doch weder aufgeschlossen noch gesellig. Der selbst- zentrierte Mensch ist rücksichtslos, unzuverlässig, wenig empathisch, leicht zu kränken und in der Regel nicht sehr beliebt. Die Wissenschaftler um Amaral ergänzten und hinterfragten mit Hilfe dieser Untersuchung das klassische Big Five-Modell. Die Ergebnisse wurden im Fachmagazin Nature Human Behaviour veröffentlicht. 

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 04/19 ab Seite 88.

Martina Görz, PTA, Psychologin und Fachjournalistin

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