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Bücher, von denen man spricht

WER HEILT, HAT RECHT

„Ärzte sind keine Halbgötter in Weiß, Schamanen keine Zauberer, auch wenn Vertreter beider Gruppen bisweilen so tun.“ Mit diesem Satz beginnt Dietrich Grönemeyers Buch „Weltmedizin“.

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Andere schreiben bei Eintritt ins Rentenalter ihre Autobiografie, er hingegen fast alles zusammen, was er im Laufe seines Medizinerlebens für wichtig erachtete. Der 65-jährige Bruder des Sängers und Schauspielers Herbert Grönemeyer hat es immer wichtig gefunden, über den Tellerrand hinauszugucken. Was er entdeckt hat, als er die chinesische Heilkunst studierte, eine Panchakarma-Verjüngungskur unternahm, Tanzen als Therapie entdeckte oder nach einer Begegnung mit dem Dalai Lama über den achtsamen achtfachen Pfad nachdachte, beschreibt er in dem Buch mit dem Untertitel: „Auf dem Weg zu einer ganzheitlichen Heilkunst“.

Er ist überzeugt, dass den verschiedenen Heilmethoden der über Jahrtausende gewachsenen Weltmedizin nicht weniger Bedeutung zukommen sollte als der Entwicklung schulmedizinischer Diagnose- und Heilverfahren oder Methoden der High-Tech-Medizin. „Erst wenn beides zusammenkommt, dürfen wir uns Hoffnung machen, den Traum von der ewigen Gesundheit mehr und mehr verwirklichen zu können.“

Am Anfang stand die Geistheilung Seit es Menschen gibt, gibt es auch Krankheiten, und man wusste sich zu helfen mit den Mitteln, die die Zeiten und die Kulturen dafür bereithielten. Grönemeyer zieht einen großen geschichtlichen Bogen: Er beginnt mit der Geistheilung („Der Placebo-Effekt wirkte in grauer Vorzeit ebenso wie heute“) und geht dann über zu den ältesten Überlieferungen ärztlicher Heilkunst in das Ägypten der Pharaonen. Dort wurde um etwa 3000 v. Chr. bereits nach Vernunftsprinzipien und nicht mehr nur mit Zaubersprüchen kuriert, man kannte bereits Atropin, Schwarzkümmel und Aloe vera, Operationen und Fachärzte. In der Blütezeit der griechischen Antike tauchte dann der Arzt auf, auf den sich der komplette Berufsstand noch heute beruft: Hippokrates von Kos (460 bis 370 v. Chr.), dessen nach ihm benannter Eid jeder angehende Mediziner schwören muss und der die ethische Grundlage medizinischen Handelns formuliert.

Er ist ganz hinten im Buch in voller Länge abgedruckt und liest sich beeindruckend modern. Im Zuge seiner Recherche reist Grönemeyer eines Tages auch nach Hawaii; eigentlich ist es nur ein Abstecher auf dem Weg zu einer Fachtagung. Doch er möchte ihn kennenlernen, den Mann, von dem ihm Freunde gesagt haben: „Wenn du ihn triffst, wirst du dich einfach nur gut fühlen.“ Er sieht den Mann, der in einem Raum sitzt und in stiller Versunkenheit vor sich hin starrt, dann nach Grönemeyers Hand greift. Was dann passiert, kann der ansonsten um Worte nicht verlegene Buchautor nicht beschreiben: „Ich fühlte mich mit einem Mal entspannt und ruhig, erfüllt von einer unbekannten Energie.“

Das für ihn erschütternde Erlebnis beeindruckt ihn sehr: „Jetzt weiß ich, dass es zwischen Himmel und Erde mehr gibt als sich unsere schulmedizinische Weisheit vorzustellen vermag.“ Wer heilt, hat eben Recht. Vielleicht ist es ein Wort, ein Mantra oder ein tranceartiger Zustand? Hauptsache, es hilft. „Tatsächlich hat sich die Schulmedizin mit der Arroganz gegenüber dem, was ihr nicht mehr oder noch nicht geläufig ist, schon oft genug blamiert, zuletzt, als sie die Psychoanalyse zunächst für einen faulen Zauber hielt“ – Sigmund Freud lässt grüßen.

Über die Entstehung der Apotheken Wer schon immer einmal wissen wollte, wie die deutsche Apotheke entstand, sollte sein Augenmerk auf Seite 167 richten: Alles fing an mit der systematischen Erfassung der Wirkweise und Charakteristika der Phytotherapie. Mit der Herstellung von Tinkturen, Extrakten, Pillen und deren Bevorratung begann das Geschäft der Apotheker – vor ihnen hatte das die so genannte Klostermedizin übernommen. Schriftlich nachweisen lässt sich die Gründung von Apotheken im Rahmen der Zunftbildungen während des 14. Jahrhunderts. In Städten gab es nun einen Stadtapotheker, was der Einrichtung von Apotheken einen geradezu institutionellen Charakter verlieh. Sehr früh wurde auch die Trennung von Arzt und Apotheker festgelegt; der Stauferkaiser Friedrich II. erlässt bereits 1241 per Edikt, dass Ärzten der Besitz oder die Beteiligung an einer Apotheke verboten ist.

Dabei ist es bis heute geblieben. In der kaiserlichen Order steht weiterhin, dass Apotheker bei der Vergabe von Medikamenten keine sozialen Unterschiede machen dürfen (ähnliches findet sich im hippokratischen Eid) sowie ein Substitutionsverbot, das den Austausch der verordneten Arzneien verbietet. Die Trennung von ärztlicher und pharmazeutischer Tätigkeit bedeutete die endgültige Abkehr von der Praxis von Schamanen und Medizinmännern, bei denen alles noch in einer Hand gelegen hatte. Schließlich mündet es darin, dass die von der Natur angebotenen Kräuter, Pflanzen und Mineralien nicht mehr pur verwendet, sondern zu konzentriert wirkenden Heilmitteln verarbeitet werden. „Die von der Naturheilkunde dominierte Zeit war abgelaufen“, bilanziert Grönemeyer. Es beginnt die schulmedizinische Ära.

Virchow, Röntgen und Koch Das Zeitalter der großen medizinischen Entdeckungen bricht an – und mit ihm entstehen Anatomie, Pathologie, Chirurgie und die Anästhesie. Rudolf Virchow betrachtet den menschlichen Körper erstmals rein naturwissenschaftlich, Wilhelm Conrad Röntgen entwickelt das erste bildgebende Verfahren, Robert Koch entdeckt unter dem Mikroskop winzig kleine Krankheitserreger, Emil von Behring und Paul Ehrlich entwickeln den ersten Impfstoff gegen Diphterie.

Kein Wunder, dass die Phytotherapie dabei völlig ins Hintertreffen gerät und Akupunktur, graeco-arabische Unani-Medizin und indisches Ayurveda gar nicht mehr vorkommen beziehungsweise völlig unbekannt, weil in Vergessenheit geraten sind. Erst in der Betrachtung dieses großen medizingeschichtlichen Bogens fällt auf: Auch Medizinmänner und Schamanen, Galen von Pergamon sowie die tanzenden Derwische des Islam hatten (und haben) ihre therapeutischen Erfolge. Grönemeyer wünscht sich „ein stärkeres Bewusstsein für die Notwendigkeit des Zusammenwirkens, auch über die Grenzen der Schulmedizin hinaus. Das schulden wir unseren Patienten.“ Und in ihrem Interesse müsse man sich auch zusammenraufen – „Schulmediziner, Psychologen und naturheilkundliche Heiler.“

Körper und Geist Besonderes Gewicht legt Grönemeyer eben auch darauf, dass der Mensch ein „spirituelles Wesen“ sei. „Stattdessen wird er als eine Verknüpfung von Organen betrachtet, die es zu reparieren gilt.“ Vielleicht auch deshalb legt der Radiologe sein Augenmerk auf Yoga – und das Gebet: „Neben der spirituellen Ebene und der Gemeinschaft stärkenden Komponente hat es ähnliche, den Körper entspannende Wirkungen wie andere Meditationsformen.“

Und das sei wichtig in unserer hektischen Welt, in der unter anderem der Bewegungsmangel dazu führe, „dass wir besonderer Therapien bedürfen, um wieder zur Ruhe zu kommen.“ Grönemeyers Fazit und sein Anliegen:​Der Aufbruch zu einer ganzheitlichen Medizintheorie, die die Erkenntnisse und das medizinische Wissen der Kulturen, das Alte und das Neue, zu einer humanen Medizin der Zukunft vereint. Da ist er wieder, der Grenzgänger, der auch gegen Ende seines Berufslebens High Tech und Naturheilkunde zum Wohle seiner Patienten zusammenschmieden will.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 01/19 ab Seite 114.

Alexandra Regner, PTA und Journalistin

Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer: Weltmedizin. Auf dem Weg zu einer ganzheitlichen Heilkunst.
Verlag S. Fischer, ISBN: 978-3-10-027306-2, 20,00 Euro, 288 Seiten, gebunden

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