© DIE PTA IN DER APOTHEKE

Bücher, von denen man spricht

WAS DEMENZ UNS ÜBER DIE LIEBE SAGT

Nicci Gerrard, die viele unter dem Pseudonym der Thrillerautorin Nicci French kennen, hat ein Buch über Demenz geschrieben. Weil nämlich ihr Vater daran erkrankte: „Demenz ist ein ausgesprochen langer Abschied vom Selbst.“

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Dieses Buch ist hart, besonders wenn man ein an Demenz erkranktes Familienmitglied hat, und das werden viele sein. 1,6 Millionen sind es zurzeit in Deutschland, berichtet die Deutsche Alzheimer Gesellschaft in seinen aktuellen Zahlen. Und täglich kommen 900 neue „Fälle“ hinzu. Aber dieses Buch gibt auch Hoffnung. Denn Nicci Gerrard gründete nach dem Tod ihres Vaters die nach ihm benannte Initiative „John’s Campaign“, die dafür sorgen soll, dass sich die Klinikkultur verändert im Hinblick auf die vielen Demenzkranken in unserer Gesellschaft. Nicci Gerrard hat es selbst erlebt, wie hilflos man als Angehöriger dem langsamen Verlöschen eines Menschen zuschauen muss.

Interviews, Reportagen, Geschichten Sie hat viele Interviews mit anderen Familienangehörigen geführt, denn die Buchautorin ist auch Journalistin und arbeitet für große britische Zeitungen. In den Anfangsstadien des „großen Niedergangs“ ihres Vaters, erinnert sie sich, hat sie einmal in einem Restaurant gesessen; mit ihm, der Schwierigkeiten hatte, zu bestellen, denn er war in einer Endlosschleife der Unentschlossenheit gefangen. „Die junge Kellnerin sah uns an, grinste und rollte verschwörerisch mit den Augen, als wäre alles ein großer Witz. Als sie den Tisch verließ, folgte ich ihr und stauchte sie zusammen. Sie war verwirrt und erschrocken. Sie war nicht grausam, sondern wusste es nicht besser. Sie dachte, hier liefe ein anderer Film – eine Komödie, keine Tragödie.“

Was für andere lustig anzusehen ist – Geschichten, die brüllend komisch sein können – ist für Betroffene und ihre Angehörigen grausame Realität. Gerrard hat mit vielen gesprochen. Mit Ehepartnern von Dementen, mit ihren Kindern, mit Freunden, mit Pflegern, Ärzten und Krankenschwestern. Sie alle versuchen, der Krankheit zu begegnen, die so schnell das Stadium drolliger Vergesslichkeit verlässt, um zu einem identitätsauslöschenden Moloch zu werden.

Ein dementer Mensch malt sich selbst Eins dieser Gespräche führte sie mit Patricia Utermohlen, der Ehefrau des Künstlers William Utermohlen, der sich selbst in den verschiedenen Phasen der Krankheit malte; ein wohl einzigartiges Zeugnis der Auslöschung eines Menschen, der sich selbst beobachtet. Angehörige sind diejenigen, die das Joch der Demenz mit tragen. Sobald die Demenz in ihr letztes Stadium eintritt, vergisst der Mensch das Vergangene, vergisst auch die Scham – vielleicht das einzig Positive an dieser Krankheit, allerdings nur für den Betroffenen.

„Sie sind in einen Zustand der Unschuld zurückgekehrt“, beschreibt es Nicci Gerrard. Der Partner muss damit weiterleben. Pat Utermohlen, die ihren Mann trotz der Krankheit überallhin mitgenommen hat, enthüllt ohne Scheu, dass sie selbst sehr wohl oft Scham empfunden hat, beispielsweise wenn er seinen Darm „an den unpassendsten Orten entleerte. Das war ein Albtraum und sehr peinlich.“

Anmerkung 

Die Selbstportraits des Künstlers William Utermohlen, die er nach Diagnose der Krankheit malte, sind leicht bei Google zu finden, beispielsweise unter beautyofoldage.wordpress.com/2014/09/11/art-alzheimers-an-interview-with-patricia-utermohlen/

Die Frau des mittlerweile verstorbenen Künstlers berichtet davon, da sie möchte, dass andere, gleichfalls Pflegende, wissen, „dass sie sich ihrer Schamgefühle nicht zu schämen brauchen.“ Wer einen dementen Familienangehörigen begleitet, bekommt oft selbst Angst, dass ihn das Los der Krankheit irgendwann treffen wird. Typischerweise ist das der Zeitraum zwischen 50 und 60: „Menschen Ihres Alters“, sagt die Ärztin der Gedächtnisambulanz, die Nicci Gerrard ziemlich verstört aufsucht, „bekommen allmählich Angst vor dem Nachlassen ihres Gedächtnisses. Mit dem Alter bereitet das Denken und Erinnern mehr Mühe. Ein Großteil der Vergesslichkeit ist altersbedingt und unproblematisch. Wir alle werden vergesslicher, wenn wir älter werden, das ist normal und natürlich und gehört zum Altersprozess.“ Aber: „Demenz ist nicht natürlich, sondern eine Krankheit.“

Versuch, diese Welt zu betreten Und dann geht die Autorin auf die Suche, nach den Orten, an denen man Demenzkranke dort abholt, wo sie stehen. Wenn nämlich die Kraft der Angehörigen nicht mehr ausreicht, um zu betreuen und zu pflegen und wenn sie, wie Nicci Gerrard, einen Platz suchen, an dem der demente Mensch gut aufgehoben ist. Sie besucht ein Heim im englischen Berkshire: „Jedes Bewohnerzimmer hat seine nummerierte Eingangstür mit einem kleinen Fenster daneben, in dem Gegenstände und Bilder stehen, die sich die Bewohner selbst ausgesucht haben. (….) Es gibt kleine Wohnzimmer, ein Kino, einen echten Laden (…) Die Gebäude wurden rund geplant, sodass Sackgassen entfallen; die Bewohner können weit laufen, ohne sich zu verirren (…) Nachts tragen die Mitarbeiter Schlafanzüge; so wissen die Bewohner, wenn sie nachts aufwachen, dass es noch nicht Zeit zum Aufstehen ist.“

Und vieles mehr: „Wir versuchen, ihre Welt zu betreten“, sagt die Heimleiterin. Am Ende des Buches beobachtet die Autorin einen Mann, der an einer belebten Kreuzung steht, immer wieder. In der einen Hand hält er ein Besteckteil, meist eine Gabel, und wedelt damit in der Luft herum, während der Verkehr an ihm vorbeitost. Er schwenkt die Gabel mal gemächlich, mal energisch, und die Autorin erfährt nach seinem Tod in Nachrufen, dass er ein Psychoanalytiker und brillanter Musikwissenschaftler gewesen war. Er hat mit seiner Gabel vermutlich den Verkehr dirigiert „zu innerlich gehörter Musik“.

Sie wird sehr nachdenklich: „Wenn wir zur Welt kommen, haben wir rein gar nichts; nach und nach bauen wir den weitläufigen, reich ausgestatteten Palast unseres Selbst auf: Sprache, Wissen, Beziehungen, Besitztümer, Erfahrungen, Erinnerungen und Liebe. Vor allem Erinnerungen und Liebe. All das fällt weg, wenn das Leben zum Zustand des Nichts zurückkehrt. Wenn wir nicht einmal mehr sagen können: „Ich bin“. Wenn wir gar nichts mehr können. Und doch wedelt der alte Mann mit seiner Gabel in der Luft herum. Vielleicht hört er Musik.“ Dieses 320 Seiten starke Buch ist teils Reportage, teils Erfahrungsbericht, teils philosophische Betrachtung. Es hilft, der Krankheit zu begegnen, auch wenn wir auf der anderen Seite sie niemals ganz verstehen werden. Das Buch ist nicht fröhlich, nicht traurig. Aber es ist notwendig.

Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 06/2021 ab Seite 132.

Nicci Gerrard Was Demenz uns über die Liebe sagt Übersetzt von Maria Andreas-Hoole
Gebundenes Buch C. Bertelsmann, 320 Seiten, 20 Euro ISBN: 978-3-570-10417-0

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