© bowie15 / iStock / Getty Images Plus
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Kolumne | Prof. Dr. Aglaja Stirn

WARUM MÖGEN SO VIELE TATTOOS?

Wie immer im Sommer sind wir umgeben von bunten Tattoobildern auf nackter Haut – am Oberarm und am Rücken oder am Kopf. Was bewegt jemanden dazu, sich tätowieren zu lassen?

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Laut Forschungen ist es vor allem der Wunsch, seiner Individualität Ausdruck zu verleihen und seine Identität zu kreieren. Die meisten Menschen, die sich tätowieren lassen, wollen damit auch ein persönliches Statement abgeben. Deswegen sind die Motive sehr wichtig. Manche lassen sich auch den Namen oder das Gesicht von Freund oder Freundin auf den Körper tätowieren um zu zeigen, dass die Beziehung unvergänglich ist. Und wie viele Menschen machen das? Laut Forschungen sind heute 43 Prozent der Frauen und Männer zwischen 25 und 34 Jahren tätowiert. 2009 waren es noch 26 Prozent. Warum hat die Zahl der Tätowierten so zugenommen? Ist es das Fallen der Tabus, das langsame Verschwinden der Religiosität, vor allem vom Christentum, in welchem der Körper Gott-geschaffen bleiben soll?

Oder sind es die veränderten sozialen und gesellschaftlichen Strukturen, das veränderte Körperbild oder einfach die zunehmende Machbarkeit? Und gibt es auch einen Bereich, in dem das Tätowieren pathologische Züge annimmt? Wenn wir einen Blick auf andere Kulturen werfen, ist es fast immer so, dass Menschen ihren Körper irgendwie modifizieren. Jedoch sind solche Veränderungen nicht individualistisch, sondern in der jeweiligen Ethnie gebunden an ein Ritual und eine Bedeutung. So zum Beispiel, wenn eine Frau ins heiratsfähige Alter kommt oder wenn ein Mann geheiratet hat – oder einfach um zu kennzeichnen, dass man zu dieser Ethnie gehört. In unserer individualistischen und nicht kollektivistischen Gesellschaft sucht man sich hingegen ein Bild aus, das die eigene Persönlichkeit ausdrücken soll oder etwas zeigt, das in der eigenen Biografie eine Bedeutung hat.

Der gemeinsame Nenner ist: Es wird mit dem Körper kommuniziert, er ist ein zentrales Handlungs- und Interaktionsinstrument. Die ältesten Forschungsarbeiten in Europa auf diesem Gebiet stammen von Lombroso, einem Psychiater, der systematische Untersuchungen im Gefängnis durchgeführt hat. Er stellte fest, dass die meisten Gefängnisinsassen tätowiert sind. Daraus schloss er, dass man Tattoos vor allem bei Kriminellen findet. Ein Schluss, von dem wir heute wissen, dass er nicht zutrifft. Laut Studien zeigen Menschen, die sich tätowieren lassen, eine Tendenz experimentierfreudiger zu sein und nach neuen Reizen zu suchen, jedoch findet man keine konsistenten Zusammenhänge mit Persönlichkeitsstörungen oder Kriminalität.

Anders bewerten muss man es jedoch, wenn jemand am ganzen Körper tätowiert ist. Und vielleicht auch der Wunsch vorhanden ist, wie ein Reptil auszusehen. Ab einer bestimmten Menge an Tattoos kann man eventuell von einem Suchtverhalten sprechen oder auch von einem Ausdruck der inneren psychischen Lage – hier kann auch eine Grenze zum Pathologischen überschritten sein. Insgesamt beurteilt kann man davon ausgehen, dass Tätowierungen mit Identität und Individualität zu tun haben, ähnlich etwa der Wahl eines bestimmten Kleidungsstils. Diese Wahl können andere mögen oder auch nicht; in diesem Rahmen haben sich Tätowierungen aber als etwas Normales etabliert, an das wir unvoreingenommen herangehen sollten.

Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 09/2020 auf Seite 12.

Zur Person
Professor Dr. Aglaja Stirn ist Direktorin des Instituts für Sexualmedizin und forensische Psychiatrie und Psychotherapie, Fachärztin für Psychosomatische Medizin, Gruppentherapie, Psychoanalyse und Sexualtherapie an der Universität Kiel, Zentrum für Integrative Psychiatrie ZIP.
www.zip-kiel.de 

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