Blick von oben auf ein Autobahnkreuz mit vielen Spuren und Zubringern, bei denen nicht auf den ersten Blick zu erkennen ist, welcher Abschnitt wohin führt.© Domepitipat / iStock / Getty Images Plus
Woher kommt die Wahrnehmung: welche Information ist neu, welche war schon gespeichert? Gut, dass wir das unterscheiden können. Forscher fanden jetzt heraus, wie das Gehirn alte Bande auflöst, um neue Eindrücke zu integrieren.

Wahrnehmung

WIE DAS GEHIRN NEUE EINDRÜCKE VON ERINNERUNGEN UNTERSCHEIDET

Täglich nehmen Menschen unzählige Sinneseindrücke wahr, die es gilt, mit dem eigenen Wissen und Erinnerungen zu kombinieren. Um dies zu ermöglichen, vernetzen sich im Gehirn verschiedene Areale. Aber wie laufen diese Prozesse eigentlich ab?

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Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum sie, wenn sie beispielsweise gerade neue Eindrücke gesammelt haben, diese direkt mit eigenen Erinnerungen verknüpfen? Wenn Sie also ein Metallgefährt auf vier Rädern sehen, wissen Sie, es ist ein Auto – auch, wenn Sie dieses Modell noch nie gesehen haben. Man denkt sich eigentlich nichts dabei, denn es passiert ja automatisch, oder? Die spannende Frage ist, wie es die unterschiedlichen Neuronen-Schaltkreise im Gehirn schaffen, die eingehenden Informationen mit den älteren zu koordinieren und dabei immer wieder neue Verbindungen einzugehen.

Auch ein Forscherteam hat sich diese Frage gestellt und hierfür eine Untersuchung an Mäusen vorgenommen. Die Auswertungen zeigen, dass es anscheinend spezielle Zellen im Hippocampus gibt, die dafür sorgen, dass sich zuvor synchronisierte Hirnareale wieder entkoppeln. Dadurch können zu unterschiedlichen Zeitpunkten verschiedene Arten von Informationen übertragen werden.

Vernetzung verschiedener Hirnareale

Wenn Informationen in unserem Gehirn ankommen, werden sie verarbeitet und es vernetzen sich verschiedene Hirnareale. Die an diesem Prozess beteiligten Nervenzellen geben dabei ihre elektrischen Signale in einer bestimmten Frequenz weiter und kreieren somit einen gemeinsamen Rhythmus. Die Wahrnehmung, die man bewusst registriert, wird mit den sogenannten Gammawellen, den Hirnwellen mit einer schnellen Frequenz, in Verbindung gebracht.

Es wurde bereits in früheren Untersuchungen festgestellt, dass jeweils bestimmte Zelltypen dafür zuständig sind, bestimmte Frequenzen zu erzeugen. Offen blieb allerdings bislang die Frage, wie sich die auf diese Weise synchronisierten Gehirnareale wieder entkoppeln, um Raum für andere Signale zu schaffen.

Hirnzellen beobachten

Ein Forscherteam um Ece Sakalar von der Medizinischen Universität Wien in Österreich hat sich nun genau mit dieser Entkopplung auseinandergesetzt. Um die Hirnzellen bei der Arbeit zu beobachten, fixierten die Forscher  den Kopf von wachen Mäusen und maßen die Aktivität ihrer Nervenzellen im CA1-Bereich des Hippocampus. Bei dem CA1-Bereich handelt es sich um eine zentrale Schaltstelle des Gehirns.

Ein bestimmter Typ von hemmenden Nervenzellen fiel den Wissenschaftlern dabei ins Auge. Diese feuerten in bestimmten Phasen der Gamma-Wellen und störten dadurch den synchronisierten Rhythmus.

„Diese Zellen identifizierten wir als Neurogliaformzellen“, erklärt das Forscherteam. Hierbei handelt es sich um einen Zelltyp, dessen Funktion bislang noch nicht geklärt war. „In unseren präklinischen Experimenten haben wir nun entdeckt, dass diese Zellen durch kurzzeitige Hemmung anderer Zelltypen dafür sorgen, dass gegenwärtige Wahrnehmung und Erinnerungen an vergangene Erlebnisse sowohl getrennt voneinander, aber auch kombiniert verarbeitet werden können“, so Sakalars Kollege Balint Lasztoczi.

Umschaltmöglichkeit im Gehirn

Dadurch ist das Gehirn in der Lage, zwischen verschiedenen Eingangskanälen umzuschalten. Dieser Vorgang lässt sich gut mit einem Radio vergleichen, bei dem man zwischen verschiedenen Sendern auswählen kann. Es liegt die Vermutung nahe, dass genau dieser Mechanismus es dem Menschen ermöglicht, Sinneswahrnehmungen mit Erinnerungen zu verknüpfen und sie zugleich unterscheiden zu können.

Schaut man sich beispielsweise ein Foto seiner Oma an und erinnert sich dabei an den Duft von leckeren Keksen, die sie immer gebacken hat, ist der Mensch in der Lage zu unterscheiden, was tatsächlich erlebt wird und was Erinnerung ist. Und so können Sie einerseits abgleichen, dass das eingangs erwähnte Fahrzeug ein Auto ist, gleichzeitig verwechseln Sie es aber nicht mit einer Erinnerung an ein anderes Auto. Eine solche störungsfreie Regulation der verschiedenen Informationsflüsse ist eine Grundlage für ein funktionierendes Nervensystem.

Neue Therapieoption bei Schizophrenie und Autismus?

Bei neuropsychiatrischen Erkrankungen wie Schizophrenie oder Autismus ist es jedoch der Fall, dass es bei der Abstimmung der Hirnwellen zu Fehlern kommt. Bei Menschen, die unter Schizophrenie leiden, ist es beispielsweise so, dass die Abgrenzung zwischen den eigenen Gedanken und den Eindrücken aus der Umwelt verschwimmt.

Die Erkenntnis, dass es sich bei den Neurogliaformzellen um eine Art Ampel im Verkehrsfluss der Informationen handelt, eröffnet möglicherweise neue Behandlungsansätze. In weiteren Untersuchungen soll nun geklärt werden, inwieweit sich diese Zellen durch Medikamente beeinflussen lassen, um womöglich die Symptome neuropsychiatrischer Erkrankungen zu mildern.

Quellen:
https://www.wissenschaft.de/gesundheit-medizin/wie-unser-gehirn-wahrnehmung-und-erinnerung-kombiniert/ 
Ece Sakalar et al.: "Neurogliaform cells dynamically decouple neuronal synchrony between brain areas", Science, 14. Juli 2022. https://www.science.org/doi/10.1126/science.abo3355 

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