Kolumne | Holger Schulze

VIRALES ERBE

Das menschliche Genom enthält uralte Retroviren. Offenbar können diese für die Entstehung einer ganzen Reihe neurologischer Erkrankungen mitverantwortlich sein.

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Kennen Sie das auch? Den ewigen Wettlauf der Pharmaindustrie gegen neue, permanent mutierende Viren wie etwa das Grippevirus? Heute möchte ich Ihnen zur Abwechslung mal nicht über das beunruhigende Auftreten neuer Virenstämme berichten, sondern über neue Erkenntnisse zu uralten Viren, den sogenannten humanen endogenen Retroviren, kurz HERV. Generell besitzen Retroviren ein einzelsträngiges RNA-Molekül, welches die Erbinformation trägt. Wird ein Wirt befallen, so wird diese RNA zunächst mittels eines viruseigenen Enzyms, der Reversen Transkriptase, in DNA umgeschrieben und kann dann durch ein weiteres Enzym, die Integrase, in das wirtseigene Erbgut eingebaut werden, dort verbleiben und, wenn die Keimbahn betroffen ist, auch vererbt werden. Das Virus wird gewissermaßen ein Bestandteil des Wirtsgenoms. HERV haben bereits vor Millionen von Jahren unsere Vorfahren infiziert und sind seitdem Bestandteil unseres Erbguts.

»Uralte Retroviren können MS, ALS und Schizophrenie auslösen.«

Tatsächlich sind etwa acht Prozent des menschlichen Genoms auf diese Weise entstanden. Während die meisten dieser Gene inzwischen durch Mutationen unwirksam geworden sind, wurde die Funktionalität einiger anderer konserviert und ist zum Beispiel Bestandteil unserer Immunabwehr. Viele dieser HERV sind unter normalen Bedingungen nur schwach exprimiert, können aber durch Umweltfaktoren wie Sauerstoffmangel, andere Viren wie etwa das Epstein-Barr-Virus, erneute Mutation oder Entzündungserkrankungen aktiviert werden. Wie neuere Studien belegen, spielen derartig aktivierte HERV eine Rolle bei der Entstehung einer Reihe neurologischer Erkrankungen. Bei MS, einer Erkrankung bei der die Markscheiden der Nervenfasern des zentralen Nervensystems angegriffen werden, konnte gezeigt werden, dass normalerweise „schlafende“ Gene von HERV-W Viren aktiviert werden, wodurch das virale Hüllprotein von den Zellen produziert wird.

Dieses aktiviert dann die körpereigene Immunabwehr, die sich schließlich gegen die Markscheiden wendet und letztlich zerstört, was zum Funktionsverlust des Nerven führt. Während bei einigen ALS-Patienten ein anderer Subtyp der Viren, HERV-K, involviert zu sein scheint, wurden bei Schizophrenie beide Subtypen gefunden. Die jeweiligen pathophysiologischen Mechanismen des Zusammenhangs zwischen HERV und Erkrankung sind in diesen Fällen aber noch weniger gut verstanden. Für MS hingegen zeichnen sich auf der Grundlage dieser neuen Erkenntnisse bereits neue Therapieformen ab. So ist derzeit ein Antikörper gegen das Hüllprotein von HERV-W in der klinischen Erprobung, der verhindern soll, dass dieses Protein die Immunantwort aktivieren kann. So würden die Markscheiden geschützt – ein Ansatz, der im Reagenzglas bereits funktioniert. Insgesamt ermöglichen diese spannenden neuen Erkenntnisse vermutlich eine ganze Reihe neuer Therapieansätze. Eine Entwicklung, die Mut macht, finden Sie nicht auch?

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 09/19 auf Seite 12.

Zur Person

Prof. Dr. Schulze, Hirnforscher
Holger.Schulze@uk-erlangen.de 

Prof. Dr. Schulze ist Leiter des Forschungslabors der HNO-Klinik der Universität Erlangen-Nürnberg sowie auswärtiges wissenschaftliches Mitglied des Leibniz-Instituts für Neurobiologie in Magdeburg. Seine Untersuchungen zielen auf ein Verständnis der Neurobiologie des Lernens und Hörens.

www.schulze-holger.de 

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