Denkerpose © bowie15 / iStock / Thinkstock

Töne lösen visuelle Eindrücke von Farben aus.

VERSCHLUNGENE SINNESPFADE

Wir nehmen die Welt nicht so wahr, wie sie ist, sondern so, wie unsere Sinne sie uns zeigen.

Seite 1/1 2 Minuten

Seite 1/1 2 Minuten

Kennen Sie das auch? Sie hören einen Ton und haben gleichzeitig das Gefühl, dass Sie jemand an der Hand berührt? Oder löst der Geschmack einer bestimmten Speise gar die Wahrnehmung von Farben oder Musik bei Ihnen aus? Nun, wenn Sie solche oder ähnliche Erfahrungen regelmäßig machen, dann sind Sie ein so genannter „Synästhetiker”.

Das Phänomen der Synästhesie beschreibt dabei die Wahrnehmung bestimmter Sinneseindrücke bei Reizung eines anderen Sinnessystems: Töne lösen visuelle Eindrücke von Farben aus, Gerüche werden „gehört”, u.s.w. Die Schätzungen darüber, wie häufig Synästhesien auftreten, gehen in der Literatur weit auseinander und liegen zwischen 0,004 und 4 Prozent der Bevölkerung, wobei neuere Zahlen aber von einem eher häufigeren Auftreten ausgehen. Dies mag daran liegen, dass Synästhesie in der Regel nicht als Erkrankung wahrgenommen wird und man daher von einer hohen Dunkelziffer ausgehen darf.

Unabhängig davon aber, wie häufig das Phänomen auftritt, interessiert die Hirnforschung, wie es eigentlich zustande kommt. Machen wir uns dazu zunächst einmal klar, welche neuronalen Aktivitäten in unserem Gehirn zu bewussten Wahrnehmungen führen: In allen Sinnessystemen steht am Anfang einer jeden Wahrnehmung die Aktivierung eines Rezeptors durch einen adäquaten, physikalischen oder chemischen Reiz: Lichtquanten werden von Photorezeptoren in der Netzhaut des Auges detektiert, Schallwellen erregen Haarsinneszellen im Innenohr durch Abknicken feinster Zellfortsätze.

Was folgt, ist eine zumeist sehr komplexe Verarbeitung der Sinnesreize innerhalb der Nervennetzwerke, wobei Eigenschaften des Reizes (z. B. rot, laut) analysiert werden. Damit aus diesen Erregungen in den Neuronen unserer Sinnessysteme schließlich bewusste Wahrnehmungen werden, muß die Information in die Großhirnrinde, den Kortex, und zwar in das für diesen Sinn zuständige Areal übertragen werden. Erregungen im Hörkortex werden dann als Höreindruck, solche im visuellen Kortex als Sehempfindung wahrgenommen.

Findet diese Übertragung in den Kortex nicht statt, so können wir teilweise noch unbewusst auf den Reiz reagieren (Patienten mit beidseitig geschädigtem Hörkortex können beispielsweise einem hupenden Auto ausweichen), wissen aber nicht, wieso wir reagiert haben (wir sprechen z. B. von „kortikaler Taubheit”). Bei zumindest einigen Synästhetikern nun scheint die Information durch die letzte Station vor dem Kortex, den Thalamus, falsch weitergeleitet zu werden, nämlich nicht in den richtigen Bereich des Kortex. Grund hierfür kann eine Hirnläsion im Thalamus oder auch eine genetische Disposition sein. Wird also beispielsweise die Information aus den Ohren fälschlicherweise in den Sehkortex geleitet, dann können Sie beim Musikhören eventuell Farben sehen – und vielleicht kennen Sie das ja auch …

ZUR PERSON

Prof. Dr. Holger Schulze
Hirnforscher
Holger.Schulze@uk-erlangen.de

Prof. Dr. Schulze ist Leiter des Forschungslabors der HNO-Klinik der Universität Erlangen-Nürnberg
sowie auswärtiges wissenschaftliches Mitglied des Leibniz-Instituts für Neurobiologie in Magdeburg.
Seine Untersuchungen zielen auf ein Verständnis der Neurobiologie des Lernens und Hörens.
www.schulze-holger.de

Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 05/12 auf Seite 12.

 


Die beliebten Kolumnen von Prof. Dr. Schulze finden Sie
inzwischen auch gesammelt in einem Buch!
Streifzüge durch unser Gehirn
34 Alltagssituationen und ihre neurobiologischen Grundlagen.

Weitere Informationen und Bestellmöglichkeit...  




Holger Schulze

×