Nachdenklicher Mann © bowie15 / iStock / Thinkstock

Kolumne | Holger Schulze

ÜBER DEN TOD

Stirbt ein Mensch, prägen Trauer und ein Gefühl des Verlusts das Empfinden der Hinterbliebenen. Doch wann ein Mensch wirklich tot ist, ist alles andere als trivial.

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Kennen Sie das auch? Das Gefühl der Trauer und des unwiederbringlichen Verlusts, wenn man einen geliebten Menschen verloren hat? Und haben Sie in einer solchen Situation auch über das grundlegende Verhältnis zwischen Leben und Tod nachgedacht? Vor ein paar Wochen verstarb mein Vater, und wenn ich über die letzte Phase seines Lebens und über sein Sterben nachdenke, dann bin ich mir gar nicht mehr so sicher, wann ich ihn tatsächlich verloren habe. Gewiss, es steht ein Datum auf seiner Sterbeurkunde, aber so einfach ist es nicht…

Wann ist ein Mensch wirklich tot?

Betrachten wir die Frage nach dem Zeitpunkt des Todes naturwissenschaftlich-medizinisch, so ist die Antwort relativ eindeutig: Als Zeitpunkt des Todes wird der irreversible Hirnfunktionsausfall definiert. Diesen sicher festzustellen ist freilich schon wieder alles andere als trivial: Es gilt nachzuweisen, dass die „Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms“ aus­gefallen ist, wofür das deutsche Gesetz ein mehrstufiges Verfahren vorsieht, zu dem unter anderem die Feststellung von Koma, Hirnstamm-Areflexie und Atemstillstand gehören. Des Weiteren kann apparativ der Stillstand der zerebralen Zirkulation nachgewiesen werden oder die berühmte „flat-line“, das Nulllinien-EEG. Da diese Diagnostik schwierig und fehleranfällig ist, bedarf sie der besonderen Qualifikation der durchführenden Ärzte. Rein physiologisch also alles klar. Oder?

Es gibt durchaus auch Stimmen, die meinen, der Mensch sei mehr als die Summe seiner Hirnfunktionen und daher die Auffassung vertreten, dass ein Hirntoter, bei dem alle anderen Organe, etwa dank künstlicher Beatmung, noch funktionieren, zwar vielleicht ein Sterbender aber eben noch kein Toter sei.

Bei meinem Vater beschäftigen mich allerdings eher Fragen, die in eine entgegengesetzte Richtung weisen: Er lebte die letzten Wochen seines Lebens auf einer Demenzstation, in der er optimal versorgt wurde und wo wir ihn regelmäßig besuchten. Bei diesen Besuchen wurde mir aber mehr und mehr der zunehmende geistige Verfall meines Vaters auf Grund seiner fortschreitenden Demenz gewahr. Zum Beispiel erkannte er mich zwar noch, wusste noch, dass ich zur Familie gehörte, hielt mich aber manchmal für seinen Vater anstatt für seinen Sohn.

Schritt für Schritt, Tag für Tag, verlor er mehr und mehr von dem, was er mal war, was ihn als Mensch ausmachte. War es also am Ende noch mein Vater, den ich besuchte? Natürlich war es sein Körper, aber wieviel von seinem Geist war es noch? Für mich fühlte es sich immer noch an wie mein Vater, selbst als lange schon kein normales Gespräch mehr möglich war, doch ich bin mir nicht sicher, ob ich seine Persönlichkeit auch dann noch gespürt hätte, wenn seine Demenz noch weiter fortgeschritten wäre, bis er nichts und niemanden mehr erkannt hätte.

Sein Tod kam der Beantwortung dieser Frage zuvor, doch die Demenz war für mich ein Abschied auf Raten, bei dem ich den Menschen, der mein Vater einst war, Stück für Stück verlor – vielleicht haben Sie das ja auch so erlebt…

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 10/18 auf Seite 12.

Zur Person
Prof. Dr. Schulze Hirnforscher
Holger.Schulze@uk-erlangen.de 

Prof. Dr. Schulze ist Leiter des Forschungslabors der HNO-Klinik der Universität Erlangen-Nürnberg sowie auswärtiges wissenschaftliches Mitglied des Leibniz-Instituts für Neurobiologie in Magdeburg. Seine Untersuchungen zielen auf ein Verständnis der Neurobiologie des Lernens und Hörens.
www.schulze-holger.de 

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