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Repetitorium

NAHRUNGSMITTELUNVERTRÄGLICHKEIT – TEIL 1

Auch wenn der Satz „Der Mensch ist, was er isst“ des deutschen Philosophen Ludwig Feuerbachs in anderem Zusammenhang fiel. Lebensmittel-Intoleranz ist „in“ – und trotzdem nicht nur eine Mode-Erscheinung.

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Sind die Tabletten auch lactosefrei?“, „Wir ernähren uns bewusst glutenfrei.“ „Nach dem Essen fühle ich mich häufig wie aufgebläht, dann folgt Durchfall“ – solche und ähnliche Anliegen und Fragen nach Hilfe kommen vergleichsweise häufig in der Apotheke vor. Grund sich mit dem Thema Ernährung und dabei insbesondere mit den Nahrungsmittelintoleranzen auseinanderzusetzen. Nahrungsmittel besitzen eine zentrale Bedeutung in unserem täglichen Leben. Sowohl ernährungsphysiologisch als auch als Genussmittel sind sie für eine befriedigende Lebensqualität für uns Menschen unverzichtbar, ja lebensnotwendig.

„Lass die Nahrung deine Medizin (und Medizin deine Nahrung) sein!“, riet schon Hippokrates von Kos (460 bis 370 v. Chr.). Doch neben den positiven Eigenschaften vieler Lebensmittel sind manche für einige Menschen mit negativen Assoziationen verbunden, da ihr Verzehr bei ihnen physische (körperliche) und teils auch psychische Beschwerden verursacht. Etwa 20 Prozent bis ein Drittel der Bevölkerung leiden in den westlichen Industrienationen unter einer Nahrungsmittelunverträglichkeit (NMU). Die erhobenen Zahlen sind etwas diffus, die Zahlen scheinen explosionsartig zuzunehmen.

Dies mag einerseits daran liegen, dass NMU „in“ sind, von den Medien und im Internet stark thematisiert werden, von dem ein oder anderen Menschen sogar als „schick“ oder „etwas Besonderes“, als „Abheben von der Masse“ empfunden werden. Andererseits offenbaren bessere Untersuchungsmöglichkeiten, dass es sich nicht allein um reine „Lifestyle-Erkrankungen“ handelt. Korrekt ist jedoch: NMU sind objektiv nachweisbar deutlich seltener als subjektiv empfunden. Und leider bestehen vom wissenschaftlichen Kenntnisstand aus gesehen bei den nicht allergischen Überempfindlichkeitsreaktionen noch große Wissens-Defizite.

Intoleranz oder Allergie? Doch zunächst zur Definition: Der Überbegriff der Nahrungsmittelunverträglichkeit (NMU) bezeichnet zunächst einmal verschiedene nahrungsabhängige Beschwerden ganz unterschiedlicher Genese.

Nahrungsmittel-Unverträglichkeiten (NMU): Sind gemäß der Europäischen Akademie für Allergologie und Klinische Immunologie (EAACI) jegliche reproduzierbaren, unerwünschten Reaktionen nach dem Verzehr von Lebensmitteln. Auch psychosomatische Reaktionen (keine physiologische Fehlfunktion diagnostisch nachweisbar = Nocebo-Effekt), strukturell bedingte NMU (krankheitsbedingt, Strukturveränderung und daraus resultierende sekundäre Fehlfunktion des Gastro-Intestinal-Traktes, etwa aufgrund Schädigung der Darmmukosa, entzündliche Dünndarmerkrankung) fallen hierunter.

Den größten Bereich machen jedoch die funktionell bedingten NMU (definierte Funktionsstörung, etwa Mangel an Fructose-Transportern, ohne anatomisch-morphologische Veränderungen im Magen-Darm-Bereich; LM-Vergiftungen – zu viel aufgenommene Toxine) aus. Bei den funktionell bedingten nichttoxischen NMU kann wiederum in einen allergischen und einen nichtallergischen Teilbereich differenziert werden.

NM-Allergie: Reaktion des Immunsystems auf bestimmte, eigentlich harmlose Lebensmittel-Inhaltsstoffe. Das Immunsystem reagiert mit einer Antigen-Antikörper-Reaktion wie auf Krankheitserreger, teils „nur“ mit lokalen Reaktionen (Mund/Rachenraum, Dünndarm), selten aber auch mit lebensbedrohlichen systemischen Symptomen und tödlichem Ausgang. Die Mehrzahl der NM-Allergien (NMA) sind allergische Sofortreaktionen, die über die Bildung spezifischer IgE-Antikörper vermittelt werden. Das Immunsystem reagiert – nach vorheriger Sensibilisierung, also einem symptomfrei verlaufenden Erstkontakt – innerhalb von Sekunden bis wenigen Minuten.

Die Prävalenz von Nahrungsmittelallergien ist regional unterschiedlich und in einigen Ländern in den letzten Jahren deutlich angestiegen. So hat sich die Häufigkeit der Erdnuss- und Baumnussallergie in den letzten Jahrzehnten in den USA verdreifacht, auch in Deutschland hat sie deutlich zugenommen. Eine aktuelle Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DGES), durchgeführt im Zeitraum 2008 bis 2012, ergab eine Lebenszeitprävalenz der NM-Allergie von 6,4 Prozent bei Frauen gegenüber 2,9 Prozent bei Männern, bei Kindern liegt das Mittel bei 4,2 Prozent. Damit liegt die Prävalenz der richtigen NM-Allergie um ein vielfaches niedriger als die der nichtallergischen NM-Unverträglichkeiten.

Häufigste Auslöser einer Nahrungsmittelallergie sind bei Kindern und Jugendlichen Milch- und Hühnerweiß, Soja, Weizen, Erdnuss und Baumnüsse. Bei Erwachsenen überwiegen pollenassozierte Nahrungsmittelallergene, insbesondere Apfel und anderes Kern- und Steinobst, aber auch Gemüse (Sellerie, Möhre) sowie Weizen, Krusten- und Schalentiere. Zu NM-Allergien existiert eine eigene S2k-Leitlinie (Leitlinie zum Management IgE-vermittelter Nahrungsmittelallergien, AWMF-Leitlinien-Register-Nummer 061–031). Daneben existiert noch die nicht IgE-vermittelte allergische NMU, von der die Zöliakie, also die Intoleranz gegenüber dem Getreideprotein Gluten wirklich relevant und auch bekannt ist.

Nichtallergische NMU (gerne auch NM-Intoleranz genannt): Diese in der Praxis sehr relevante Form ist um ein vielfaches häufiger als „klassische“ NM-Allergien. Sie sind nicht-allergischer Natur, das heißt, es steht kein immunologisches Geschehen dahinter. Entweder handelt es sich um Enzym-Defekte (bekannte Beispiele: Laktose-Intoleranz; Histamin-Intoleranz) oder Transporterdefekte (bekanntes Beispiel: Fructose-Malabsorption; Malabsorption = „schlechte Aufnahme“) beziehungsweise um eine Hypersensitivität.

Letzteres bedeutet, dass objektiv reproduzierbare Überempfindlichkeitssymptome oder -zeichen durch einen definierten Stimulus (bestimmte Nahrungsbestandteile in bestimmter Menge) hervorgerufen werden, der von Gesunden problemlos toleriert wird. Einerseits kann dies bedingt sein durch pharmakologische Reaktionen (etwa bei biogenen Aminen, insbesondere der bekannten Histamin-Intoleranz, vermittelt über H1- bis H4-Rezeptoren), andererseits aber auch durch pseudoallergische Reaktionen.

Pseudo-NM-Allergie: Unverträglichkeitsreaktion, die in der klinischen Symptomatik allergieähnlich ist, jedoch ohne immunologische Reaktion abläuft. Es finden sich keine Antikörper im Blut oder bei Hauttests, es findet keine vorhergehende Sensibilisierung statt. Charakteristisch ist hingegen eine vorhandene Dosis-Wirkungskurve („die Menge macht das Gift“), die oft bei Allergien so nicht beobachtet werden kann. Geringe Mengen werden toleriert, mit steigender Menge nimmt die Symptomschwere zu. Häufigste Auslöser: Arzneimittel und Nahrungsmittel-Zusatzstoffe.

Zu den Substanzen, bei denen bekannt ist, dass sie es häufig schaffen, Mastzellen unspezifisch zu aktivieren, gehören unter den Arzneimitteln NSAR (Nichtsteroidale Antirheumatika, insbesondere Salicylate), Opiate, manche Muskelrelaxanzien, das Antiprotozoenmittel Pentamidin, manchmal auch radiologische Kontrastmittel. Auch viele Zusatzstoffe in Nahrungsmitteln, etwa Konservierungsmittel (Benzoesäure, Sorbinsäure), Antioxidanzien, Farbstoffe, Emulgatoren, Trennmittel, Stabilisatoren, Geschmacksverstärker (etwa E-Nummer 621 –Mononatriumglutamat – China-Restaurant-Syndrom). Säuerungsmittel lösen Pseudoallergien aus, ebenso Salicylate (in Äpfeln, Aprikosen, Beerenobst), Lektine (in Erdbeeren), Histamin (in Fisch, Käse – je gereifter desto mehr – Rotwein).

Die Zahl der Pseudoallergien durch NM schwankt allein für Deutschland je nach Quelle zwischen 120 000 und 500 000 Bundesbürgern, auf jeden Fall ist ihre Zahl aber noch einmal deutlich unter der der NM-Allergiker. Im Sprachgebrauch werden häufig alle NMUs (insbesondere: allergisch – nicht-allergisch) in einen Topf geworfen, also die als Ursache sehr relevante Begriffsdifferenzierung nicht vorgenommen und alle vielfach sogar fälschlicherweise synonym verwendet. Nach allgemeinem Verständnis stellen jedoch die nichtallergischen NMU die Nahrungsmittelintoleranzen im engeren Sinne dar.

Ähnliches gilt für die Begriffe Maldigestion („schlechte Verdauung“ – der betreffende Stoff wird im Magen/Dünndarm nicht richtig aufgespalten und kann dadurch nicht richtig verdaut werden), Malabsorption („schlechte Aufnahme“ – der betreffende Stoff kann nur schlecht oder gar nicht über das Verdauungssystem in den Körper aufgenommen werden, meist Transporterproblem) und Intoleranz („Unverträglichkeit“). Eine Maldigestion kann eine Malabsorption zur Folge haben, diese wiederum kann – muss aber nicht – eine Intoleranz zur Folge haben. Meist werden Betroffene allerdings erst klagen, wenn sie merkliche Symptome beschreiben – also bereits eine Intoleranz erworben haben.

Allgemeine Symptome So äußert sich eine NMU dadurch, dass nach dem Verzehr bestimmter Lebensmittel regelmäßig körperliche Beschwerden auftreten. Sehr häufig sind dies gastrointestinale Probleme, häufig auch unspezifischer Natur. Insbesondere bei Schilderungen von Kunden über permanenten Blähbauch (Meteorismus), Flatulenz sowie Schmerzen nach dem Essen, Bauchkrämpfen, Übelkeit und Diarrhö (Durchfall) sollte man auch als Apothekenmitarbeiter hellhörig werden und den Verdacht auf eine NMU in Betracht ziehen. Auf Dauer können diese Beschwerden auch bei Betroffenen zur Gewichtsabnahme oder gar Mangelerscheinungen führen.

Schwächgefühl, Tränenfluss, laufende Nase, Herzklopfen, Schweißausbruch, Muskelzucken – manchmal schon während des Essens oder bis zu einer Stunde danach sind ebenfalls häufiger geäußerte Symptome. Dass das Herz-Kreislauf-System beteiligt sein kann mit Hypotonie, Schwindel, im Extremfall auch lebensbedrohlichen physiologischen Reaktionen (etwa bei einer Histamin-Intoleranz) kann sich sicherlich jeder vorstellen.

Dermatologische Beschwerden, insbesondere Urtikaria (Nesselsucht, Quaddeln und ödematöse Veränderungen der oberen Hautschichten), Angioödem (sich rasch entwickelnde, schmerzlose, selten juckende Schwellung von Haut und Schleimhaut), aber auch Rötung, Juckreiz, manchmal begrenzt auf den Mund-Nase-Rachenraum, Flush (anfallsartige Rötung der Haut) werden öfters beschrieben. Einzelne speziellere Beschwerden werden bei den wichtigen NMUs (Laktose-Intoleranz, Fructose-Malabsorption, Sonstigen Kohlenhydrat-Malassimilationen, insbesondere der Sorbit-Intoleranz, Histamin-Unverträglichkeit aber auch der Glutensensitivät / Zöliakie) in den folgenden Repetitoriumsteilen noch ergänzend erwähnt.

Schwierige Diagnostik Der wachsende Bekanntheitsgrad sowie die deutliche Zunahme diagnostizierter NMU hat auch die Anbieter-Anzahl von NMU-Tests wie Pilze aus dem Boden schießen lassen. Meist handelt es sich aber um labordiagnostische Screening-Tests, die Antikörper-Bestimmungen vornehmen. So soll angeblich auf „Allergien“ gegen Hunderte von Lebensmitteln getestet werden können. Fakt ist jedoch: Aufgrund Antikörper-Nachweises (in der Regel IgG4-Antikörper-Bestimmung) ist noch lange nicht auf eine klinisch relevante Allergie zu schließen.

Es existiert keine Korrelation zwischen IgG4- und IgE-Titern, die IgG4-Antikörper-Bestimmungen haben keinerlei diagnostische Relevanz was allergische (und erst recht nicht was nichtallergische) NMU betrifft. Zudem machen „klassische“ LM-Allergien ja nur einen sehr geringen Teil der gesamten NMU aus. Bei vielen angebotenen Tests wird somit eher die Unwissenheit der Verbraucher über pathophysiologische Zusammenhänge ausgenutzt, um Geld zu verdienen. Insgesamt ist bei NMU die genaue Diagnose oft schwierig – und sollte weitgehend dem Arzt überlassen werden.

Denn zunächst müssen andere Grunderkrankungen, Intoleranzen und Erkrankungen, die zu Nahrungsmittelunverträglichkeiten prädisponieren, mithilfe der Serumanalytik, bildgebender Diagnostik, Endoskopie (Spiegelung) und Histologie (Gewebeuntersuchung) sowie Stuhluntersuchungen ausgeschlossen werden. Sonst werden womöglich eine chronisch entzündliche Darmerkrankung, ein Lymphom (Lymphknotenschwellung und Tumoren des Lymphgewebes), eine Mastozytose (seltene Erkrankung, Anhäufung von Mastzellen) oder gar Tumoren übersehen.

Die „Leitlinie zum Vorgehen bei Verdacht auf Unverträglichkeit gegenüber oral aufgenommenem Histamin*“ weist sogar ausdrücklich darauf hin, dass eine verlässliche Laborbestimmung zur definitiven Diagnose einer Histamin-Intoleranz nicht vorhanden ist. Sehr bekannt und tatsächlich auch als Goldstandard in der Diagnostik von Kohlenhydrat-Malabsorptionen gilt der Wasserstoffatemtest. Wenn nach Aufnahme von Kohlenhydraten Wasserstoff (Wasserstoff ist Indikator für einen pathologischen, also krankhaften Stoffwechselprozess) abgeatmet und dessen Konzentration in der Atemluft bestimmt wird, ist dies relativ einfach durchführbar und nur mit einer geringen Belastung für den Betroffenen verbunden.

Das indirekte Verfahren ist sehr spezifisch und sensitiv. Falls ein H2-Atemtest auf Fructose, Lactose, Sorbit (gegebenenfalls auch Lactulose) positiv ist, könnte jedoch auch eine bakterielle Dünndarmüberwucherung Ursache einer Nahrungsmittelunverträglichkeit sein. Besonders Personen mit postoperativen Veränderungen, Peristaltikstörungen, Diabetes mellitus sowie unter einer Medikation mit Immunsuppressiva oder Protonenpumpenhemmern sind von solchen Dünndarmüberwucherungen betroffen. Deshalb: Einen Arzt zur genaueren Diagnostizierung einzuschalten (in der Hoffnung auch einen Arzt zu erwischen, der eine mögliche NMU nicht als Lappalie abtut) ist nicht verkehrt.

In der Apotheke kann lediglich empfohlen werden, ein Ernährungsprotokoll zu erstellen (Alternativ: Befragungsbogen). Auslass-Diäten oder eine gezielte Provokation sollten nur unter Aufsicht und auf Anraten durchgheführt werden, die Diagnostik könnte sonst erschwert werden. In den weiteren zwei Repetitoriumsteilen werden die engeren und vergleichsweise häufigeren nicht-allergischen NMUs, die Laktose-Intoleranz, Fructose-Malabsorption, sonstige Kohlenhydrat-Malassimilationen (insbesondere Sorbit), Histamin-Intoleranz sowie die Sonderrolle Gluten-Unverträglichkeit (Zöliakie), näher unter die Lupe genommen.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 01/18 ab Seite 70.

Dr. Eva-Maria Stoya, Apothekerin/Fach-Journalistin

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