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Repetitorium

MULTIPLE SKLEROSE – TEIL 2

Das Fortschreiten der Erkrankung zu verlangsamen, ist gegenwärtig noch Hauptziel jeglicher MS-Therapie. Dieser Repetitoriumsteil befasst sich mit dem Stufenplantherapieschema und dem größeren Teil der zugelassenen MS-Medikamente.

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MS-Heilung? Bisher nicht möglich! Jegliche Therapie ist gegenwärtig noch symptomatisch, wobei es das Ziel ist, die Schubfrequenz beziehungsweise Schwere der Schübe zu verringern, dauerhafte neurologische Defizite zu unterbinden und den Verlaufsfortschritt zu verlangsamen (verlaufsmodifizierende Therapie). Bei schon eingetretenen dauerhaften neurologischen Ausfällen soll zumindest eine Stabilisierung der Einschränkungen auf möglichst niedriger Behinderungsstufe erreicht werden. Dennoch gilt: Allein in den letzten zehn Jahren gab es riesige Fortschritte in der Therapiebehandlung. So existieren mittlerweile Medikamente, die gezielt die Zellgruppen beeinflussen oder sogar angreifen, die bei der Aktivität der MS eine Rolle spielen. Und da Forschung und Entwicklung beständig weitergehen, befindet sich auch die hierzu noch gültige MS-Leitlinie (Deutsche Gesellschaft für Neurologie- DGN) gegenwärtig in Überarbeitung. Sie wurde 2012 erstellt und im August 2014 ergänzt durch die Experten des KKNMS (Krankheitsbezogenes Kompetenznetz Multiple Sklerose).

Stufentherapie hilft Arzt und Patient Zur qualitativ hochwertigen sinnvollen Versorgung von MS-Patienten wurde eine Stufentherapie entwickelt. Die medikamentöse Behandlung richtet sich danach, wie aktiv die MS aktuell ist, das heißt, ob ein akuter Schub beziehungsweise ob eine milde oder (hoch-)aktive Verlaufsform vorliegt. Die früher übliche Unterscheidung in Basis- und Eskalationstherapie wurde mit der letzten Leitlinien-Erneuerung 2014 bewusst verlassen, da auch bei den Arzneimittel-Zulassungen hierzu eine „Aufweichung“ erfolgte. Auf jeder Stufe kommen jetzt in erster Linie die Medikamente zum Einsatz, die aufgrund ihrer Wirksamkeit und Verträglichkeit die besten Ergebnisse erzielen. Innerhalb dieses Stufentherapieschemas wird die Behandlung seitens des Neurologen beziehungsweise eines spezialisierten, erfahrenen MS-Zentrums zudem immer individuell auf den Patienten und seinen Krankheitsverlauf abgestimmt.

Faktisch steht die medikamentöse MS-Therapie somit auf drei großen Säulen: 1.Akutbehandlung bei Schüben: Methylprednisolon, wenn diese unwirksam: Plasmaseparation 2.Verlaufsmodifizierende Therapie (=immunmodulatorische Langzeitbehandlung): Milde/moderate Verlaufsformen (First line-Therapie): Interferone (Interferon beta-1a, Interferon beta-1b), Glatirameracetat, Dimethylfumarat, Teriflunomid; Reservemittel: Azathioprin, Immunglobuline (IVIg) (Hoch)aktive Verlaufsformen (Second line-Therapie): 1. Wahl: Alemtuzumab, Fingolimod, Natalizumab; 2. Wahl: Mitoxantron, Reservemittel: Cyclophosphamid; 3. Wahl: Experimentelle Verfahren 3. Symptomatische Therapie: Im Verlauf der Erkrankung treten häufig Schmerzen, ein stark erhöhter Muskeltonus (Spastik), Blasenfunktionsstörungen, Sprech- und Schluckstörungen, schnelle physische wie psychische Ermüdbarkeit (Fatigue-Syndrom) sowie Depressionen auf (siehe Symptome Repetitoriums-Teil 1).

Hier kommen weitere medikamentöse Begleittherapien zum Tragen. Neben der Medikations-Therapie stehen zudem im Bedarfsfall Physiotherapie, Logopädie, Ergotherapie sowie eine gute psychische (Psychotherapie) und soziale Betreuung als Begleit-Maßnahmen zur Verfügung.

Akuter Erkrankungsschub – was tun? Die Ärzte geben im akuten Erkrankungsschub 1000 Milligramm Methylprednisolon intravenös für drei bis fünf Tage, bei engmaschiger Kontrolle von Blutzucker, Elektrolyten und Blutdruck. Das soll die Entzündungsreaktion eindämmen und die Symptome rasch zum Abklingen bringen. Zeigt sich keine Besserung innerhalb weniger Tage, kann diese Glukokortikoid-Impulstherapie noch einmal – auch mit etwas erhöhter Dosis – wiederholt werden. Über den kurzen Verabreichungszeitraum ist Methylprednisolon im allgemeinen recht gut verträglich. Allerdings existieren keine studiengestützten Hinweise, dass sich diese Methylprednisolon-Akutschub-Behandlung langfristig günstig auf den MS-Verlauf auswirkt. Schlägt die Kortison-Therapie nicht an, kann – insbesondere bei einem schweren akuten Schub – eine Plasmapherese (Blutwäsche) indiziert sein. Bei etwa der Hälfte der Patienten wird durch dieses an spezialisierten Zentren durchzuführende Verfahren eine deutliche Besserung erreicht.

Verlaufsmodifizierende Therapie – milder/moderater Krankheitsverlauf
ArzneimittelBeschreibung
Interferon beta-1a PräparateNatürlich vorkommendes Protein. Darreichung parenteral (subkutan oder intramuskulär). Markteinführung 1997
Interferon beta-1b PräparateNatürlich vorkommendes Protein. Darreichung parenteral (subkutan). Markteinführung 1996
PEG-Interferon beta-1aPegylierte Form des Interferon beta-1a. Darreichung parenteral (subkutan). Markteinführung 2014
GlatirameracetatSynthetisches Polypeptid, Acetatsalz aus Aminosäuren. Darreichung parenteral (subkutan). Markteinführung 2001
TeriflunomidReversible Hemmung des Zellmetabolismus. Darreichung oral. Markteinführung 2013
DimethylfumaratFumarsäureesther. Darreichung oral. Markteinführung 2014
Reservemittel:
AzathoprinHemmt Lymphozyten Differenzierung und -Aktivierung. Darreichung oral. Markteinführung 1967, seit 2000 für MS zugelassen
ImmunglobulineBlutplasmaderivat. Darreichung parenteral (intravenös). Markteinführung 1962 (Keine Zulassung für MS, Off-Label-Use in der Regel nicht anerkannt)

Quelle: Kip / Schönfelder / Bleß: Weißbuch Multiple Sklerose 2016, S. 58, leicht modifiziert.

Verlaufsmodifizierende Therapie Diese Dauermedikation strebt an, Schübe zu verhindern und wirkt sich wahrscheinlich auch langfristig positiv auf den Krankheitsverlauf aus, insbesondere bei frühem Einsatz. Arzneimittel der Wahl bei einem klinisch isolierten Syndrom (CIS) sowie bei milden/moderaten MS-Verlaufsformen sind Beta-Interferone beziehungsweise Glatirameracetat.

Interferon-beta-Präparate Mittlerweile über 20 Jahre Erfahrung belegen ein gutes Nutzen-Risiko-Profil in der Basistherapie einer MS für die rekombinanten Beta-Interferone. Diese werden natürlicherweise von Fibroblasten und Epithelzellen produziert und besitzen antivirale, antiproliferative (Hemmung oder Verlangsamung der Zellteilung) und immunmodulierende (aktivieren natürliche Killerzellen sowie T-Lymphozyten) Eigenschaften. Interferon-beta-1a wird mit Säugetierzellen, Interferon beta-1b mithilfe von genetisch modifizierten Bakterien (Escherichia coli) produziert. Der Wirkungsmechanismus der Interferone ist allerdings komplex und teilweise noch unbekannt. In Studien konnte nachgewiesen werden, dass die Funktion von Entzündungszellen so beeinflusst wird, dass diese weniger aktiv gegen körpereigenes Gewebe vorgehen und auch der Übergang von Entzündungszellen via Blut-Hirn-Schranke ins Zentralnervensystem (ZNS) gehemmt wird.

Die Schubrate wurde in Studien um durchschnittlich mehr als 30 Prozent gesenkt, auch das Risiko der fortschreitenden Behinderung verringerte sich deutlich. Die Verträglichkeit der in unterschiedlichen Dosierungen im Handel befindlichen Interferon-beta-Präparate ist im allgemeinen gut. Zu den häufigsten Nebenwirkungen zählen Hautreaktionen an der Injektionsstelle (Rötung, Schmerz, Schwellung, Überempfindlichkeit), vor allem zu Therapiebeginn grippeähnliche Symptome sowie Blutbildveränderungen (Leuko- und Thrombozytopenien), selten thrombotische Mikroangiopathien (Erkrankung der kleinen Blutgefäße, besondere Ausprägung der Arteriosklerose) oder Leberschäden. Peginterferon-beta-1a muss nur alle zwei Wochen unter die Haut gespritzt werden, was MS-Betroffenen die Möglichkeit gibt, ihre Behandlung für längere Zeiträume in den Hintergrund zu stellen (Lebensqualität).

Glatirameracetat Seit 2001 bietet der Immunmodulator Glatirameracetat eine Alternative zu den Interferon-beta-Präparaten. Es handelt sich um ein künstlich hergestelltes Produkt aus den vier wichtigsten Aminosäuren (L-Glutaminsäure, L-Lysin, L-Alanin, L-Tyrosin) des humanen Myelins und soll deswegen die Entzündungsreaktionen bei MS vermindern. Studien weisen zudem auf eine zusätzlich gewebeschützende Wirkung hin, sodass die ZNS-Zellen besser gegen eine schädigende Entzündung gewappnet sind. Aber auch hier ist die genaue Wirkweise nicht abschließend geklärt. Die Wirkung selbst tritt erst nach circa drei Monaten voll ein, sodass Schübe am Behandlungsbeginn nicht als Therapieversagen gewertet werden dürfen. Wie die Beta-Interferone werden Krankheitsschübe jährlich um etwa 30 Prozent reduziert, auch die MRT-Aktivität ist signifikant niedriger.

Häufigste Nebenwirkung ist auch hier eine lokale Hautreizung der Injektionsstelle (Rötung, Brennen, Juckreiz, lokales Ödem), am ehesten vermeidbar durch gute Desinfektion und häufigeres Wechseln der Einstichstelle. Auch Post-Injektionsreaktionen („Flush“) mit Atemnot, Herzrasen, Gefäßerweiterung, Brustschmerzen und entsprechend resultierender Angst kommen bei einem Drittel der Behandelten vor, bilden sich aber spontan innerhalb einer halben Stunde ohne weitere Folgen zurück. Seltene Nebenwirkungen sind Infektionen, Lymphknoten-Schwellung, erhöhte Leberwerte, Augen-Funktionsstörungen, Erbrechen, Zittern, Gewichtszunahme. Die Wirkstoffe Dimethylfumarat, Teriflunomid sowie Azathioprin sind nur für die milde/moderate Verlaufsform der schubförmigen MS zugelassen.

Dimethylfumarat Seit Januar 2014 wird die Weiterentwicklung der schon bei Psoriasis (Schuppenflechte) erfolgreich eingesetzten Fumarsäure auch bei MS eingesetzt. Entzündungshemmende und die Nerven schützende Effekte, aber in Tierversuchen sogar Reparatureffekte bei motorischen Nerven konnten nachgewiesen werden. Eine über 40 Prozent niedrigere jährliche Schubrate sowie eine Reduktion der Krankheitsaktivität im MRT um 85 Prozent, bei 40 Prozent niedrigerem Risiko einer Verschlechterung des Behinderungsgrades sprechen in den Zulassungsstudien eine deutliche Sprache. Zudem ist eine tägliche orale Einnahme (zweimal täglich eine Kapsel à 240 Milligramm) möglich. Da Dimethylfumarat bereits seits 20 Jahren in einem Kombinationspräparat bei Psoriasis eingesetzt wird, sind die Erfahrungswerte mit dem Wirkstoff entsprechend hoch.

Häufige, allerdings meist mild ausfallende und nach vier bis sechs Wochen meist verschwindende Nebenwirkungen sind Magen-Darm-Probleme (Übelkeit, Sodbrennen, Durchfälle). Auch vorübergehendes Erröten der Haut (häufig als „Flush“ bezeichnet) oder vorübergehende Erhöhung der Leberwerte kommen vor. Bei Langzeitgabe ist eine regelmäßige Blutbildkontrolle unerlässlich, um eine Schwächung des Immunsystems (logische Folge der eigentlich gewünschten immunmodulatorischen Wirkung) und Infektionen auszuschließen. 2016 gab es einen Todesfall aufgrund einer Virus-Infektion im Gehirn, der progressiven multifokalen Leukenzephalopathie, PLM. Über drei Jahre lang waren dabei die deutlich erniedrigten Leukozytenzahlen therapeutisch nicht berücksichtigt worden.

Teriflunomid Dieser Immunmodulator ist seit August 2013 der erste MS-Wirkstoff in Tablettenform und wird in seiner zugelassenen Dosis von 14 Milligramm pro Tag zweimal täglich unabhängig von den Mahlzeiten eingenommen. Obwohl der genaue Wirkmechanismus nicht genau geklärt ist, steht zumindest fest, dass durch Hemmung mitochondrialer Enzyme aktivierte weiße Blutkörperchen (Lymphozyten), die mutmaßlich die MS (mit) verursachen, im Wachstum reduziert werden. In den Zulassungsstudien wurde die durchschnittliche jährliche Schubrate sowie die Häufigkeit eines anhaltenden Fortschreitens der Behinderung um jeweils deutlich mehr als 30 Prozent verringert.

Die häufigsten bekannten Nebenwirkungen dieses Medikamentes, bei dem noch keine Langzeiterfahrungen vorliegen, sind erhöhte Leberwerte, vorübergehender Haarausfall, Übelkeit, Durchfälle sowie Empfindungsstörungen an Händen und/oder Füßen (Polyneuropathie). Teriflunomid ist fruchtschädigend und hat eine sehr lange Halbwertszeit, die Ausscheidung aus dem Körper nach Therapie-Beendigung/Wechsel kann bis zu zwei Jahre dauern, aber durch „Auswaschen“, etwa Einnahme von Aktivkohle oder Cholestyramin beschleunigt werden.

Azathioprin Vor der Einführung der Interferon-beta-Präparate war der in der Tumortherapie, Transplantationsmedizin, aber auch beispielsweise bei Autoimmun- oder entzündlichen Erkrankungen wie Morbus Crohn, Colitis ulcerosa oder rheumatoider Arthritis eingesetzte Wirkstoff, ein Purinanalogon, in einigen Ländern Mittel der ersten Wahl in der MS-Therapie. Heute ist der seit September 2000 in Deutschland offiziell gegen MS – wenn eine Therapie mit Beta-Interferonen nicht möglich ist – zugelassene Wirkstoff nur noch ein vergleichsweise selten eingesetztes Reservemedikament. Es handelt sich um ein Immunsuppressivum, die körpereigene Abwehr wird unterdrückt.

Häufigere Nebenwirkungen sind allgemeines Krankheitsgefühl, Übelkeit, Erbrechen, Blutbildveränderungen (Leukopenie, seltener Thrombozytopenie oder Anämie), erhöhtes Infektionsrisiko und bei langjähriger Dauereinnahme ein leicht erhöhtes Krebsrisiko. Dafür besitzt der lange bekannte Wirkstoff laut „www.embryotox.de“ den Vorteil, dass eine Einnahme während Schwangerschaft und Stillzeit zumindest möglich ist. In der noch gültigen MS-Leitlinie wird die Einnahme in Schwangerschaft und Stillzeit allerdings nicht empfohlen.

Intravenöse Immunglobuline (IVIg) Diese natürlichen Bestandteile des Immunsystems (Antikörper) kommen therapeutisch bei verschiedensten Erkrankungen zum Einsatz. Sie wurden auch bei MS versucht, besitzen hierfür aber keine Zulassung. Ihre Wirksamkeit konnte in neueren, strenger gefassten placebokontrollierten Studien auch nicht mehr eindeutig belegt werden. Sie gelten als absolute Reserve in Sondersituationen, etwa bei einer Schwangerschaft/Stillzeit, da ansonsten mittlerweile zahlreiche MS-Medikamente mit überzeugenden Wirkdaten zur Verfügung stehen. Bedacht werden sollte, dass nicht bei MS-Behandlungs-Neubeginn, sehr wohl aber bei einem Therapiewechsel von einem MS-Medikament zu einem anderen, Sicherheitsabstände einzuhalten sind, die teils nur wenige Wochen, manchmal jedoch auch mehrere Monate betragen sollten. Die bei der hoch(aktiven) Verlaufsform indizierten Medikamente/Arzneimittelgruppen werden im dritten Repetitoriumsteil näher beleuchtet. Daneben werden im „off label use“ immer wieder Substanzen ausprobiert, etwa Cyclophosphamid oder Methotrexat. Auch zur Therapie der Begleitsymptomatik häufiger verschriebene Medikamente sowie die von MS-Erkrankten beklagten Schwierigkeiten mit ihrer Therapie sind Thema des dritten Teils. 

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 08/17 ab Seite 86.

Dr. Eva-Maria Stoya, Apothekerin und Fachjournalistin

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