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Kolumne | Holger Schulze

DIE ANGST VOR DEM UNBEKANNTEN

Die Angst vor allem Neuen oder Fremdartigen, die sogenannte Neophobie, ist weit verbreitet. Doch wieso ängstigt manche das Unbekannte, andere aber nicht?

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Kennen Sie das auch? Die Angst vor etwas Neuartigem oder Unbekanntem, kurz Neophobie? Oder sind Sie eher der furchtlose Typ, der alles ausprobiert? Tatsächlich kann man bereits bei Babys zwei grundlegend verschiedene Verhaltensstrategien unterscheiden, wenn man sie mit Neuem konfrontiert: Während solche mit einem eher gehemmten Temperament zunächst stets versuchen werden, das Unbekannte zu meiden, werden ungehemmte Kinder sich eher nähern, um das Fremde neugierig zu erkunden. Auch wenn sich die Erzieherin in der KiTa meist vermutlich eher letzteres Verhalten wünschen würde, etwa beim Erlernen neuer Fertigkeiten, kann das gehemmte Verhalten auch das sinnvollere sein, zum Beispiel, wenn es darum geht, potenzielle Gefahren zu vermeiden, etwa bei der ersten Überquerung einer vielbefahrenen Straße.

Sollen wir Fremdes vermeiden oder erkunden?

Evolutionsbiologisch macht es also Sinn, dass sich beide Verhaltensstrategien erhalten haben, da beide vorteilhaft sein können, aber eben in jeweils unterschiedlichen Situationen. Betrachtet man allerdings die den Verhaltensweisen zu Grunde liegenden neurophysiologischen Mechanismen, so ist auf lange Sicht die Neugier im Vergleich zur Angst wohl die bessere Strategie.

So wissen wir beispielsweise, dass Angstreaktionen bei Neophobikern mit erhöhter Aktivität der Amygdala, dem Sympathikus und der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse einhergehen, oder mit anderen Worten, mit einer ausgeprägten Stressreaktion: Neues löst bei ihnen die Ausschüttung von Stresshormonen (Glucocorticoiden) aus. In einem Rattenmodell konnte gezeigt werden, dass bei Individuen, bei denen sich diese Verhaltensstrategie in der Jugend herausgebildet hatte, erhöhte Stresshormonlevel zeitlebens nachgewiesen werden konnten, und dass neophobe Männchen deutlich früher starben als ihre entdeckungsfreudigen neophilen Artgenossen.

Dass erhöhte Glucocorticoidspiegel auch für den Menschen gesundheitsschädlich sind, dürfte hinreichend bekannt sein. Wie also könnte man vermeiden, der eigenen Gesundheit durch die Angst vor dem Unbekannten selbst zu schaden? Zur Veranschaulichung hilft hier vielleicht ein Blick auf die immer noch aktuelle Flüchtlingsdebatte. Da fällt es ja auf, dass die Ablehnung von Flüchtlingen in den Bundesländern am größten ist, in denen der Ausländeranteil insgesamt am geringsten ist. Man könnte also vermuten, dass diese Ablehnung in einer Neophobie begründet liegt.

Kennt man „die Fremden“ aber schon länger, so wie in den Bundesländern mit hohem Ausländeranteil, dann verschwindet scheinbar auch die Angst vor ihnen, weil das Fremde nämlich gar nicht mehr fremd ist. Sollten Sie also ein Problem mit Neophobie haben, so wäre mein Rat, lernen Sie das Neue kennen, um die Angst davor zu überwinden. Dazu bedarf es nicht zwingend der direkten Konfrontation mit der Person, Sache oder Situation, die sie ängstigt. Wissen darüber kann man auch „aus zweiter Hand“ erhalten, etwa durch Nachlesen. Und was man dann kennt, braucht man – in aller Regel – nicht mehr zu fürchten, finden Sie nicht auch?

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 11/18 auf Seite 12.

Zur Person

Prof. Dr. Schulze
Hirnforscher
Holger.Schulze@uk-erlangen.de 

Prof. Dr. Schulze ist Leiter des Forschungslabors der HNO-Klinik der Universität Erlangen-Nürnberg sowie auswärtiges wissenschaftliches Mitglied des Leibniz-Instituts für Neurobiologie in Magdeburg. Seine Untersuchungen zielen auf ein Verständnis der Neurobiologie des Lernens und Hörens.

www.schulze-holger.de

»Sollen wir Fremdes ­vermeiden oder erkunden?«

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