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Gifttiere

SPINNEN

Vorhofflimmern, seltene Muskelerkrankungen, erektile Dysfunktion, Schlaganfall – all dies sind Krankheiten, bei denen in Zukunft Arzneimittel aus Spinnengift eine wichtige Rolle spielen könnten.

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Die Brasilianische Wanderspinne gilt als giftigste Spinne der Welt. Ihr Toxin wirkt fast zwanzig Mal stärker als das der Schwarzen Witwe. Anders als andere Spinnen reagiert sie außerdem bei Bedrohung sehr aggressiv. Sie stellt die vorderen Beine auf, was aussieht, als würde sie Pistolen in die Luft halten, und bewegt den Hinterkörper rhythmisch hin und her. Danach folgt sehr schnell der Angriff. Da sie sich tagsüber gerne in dunklen Spalten, bevorzugt in Wohnhäusern, versteckt, ist sie eine ernst zu nehmende Gefahr für den Menschen.

Nach dem Spinnenbiss treten sehr starke Schmerzen auf. Das Gift wirkt neurotoxisch und führt im schlimmsten Fall zum Tod durch Atemlähmung und Herzstillstand. Das Toxin der Wanderspinne hat jedoch eine eigenartige Nebenwirkung. So berichteten Waldarbeiter in Brasilien von extrem lang anhaltenden und mitunter schmerzhaften Erektionen nach einem Biss und auch, dass sich ihre sexuelle Leistungsfähigkeit langfristig steigerte.

Das ließ Forscher hellhörig werden. Sie isolierten aus dem Spinnengift ein Peptid, das den Priapismus auslöste. Im Tierversuch zeigte sich, dass das als Tx2-6 bezeichnete Eiweißmolekül im Körper zu erhöhten Stickstoffmonoxidwerten und somit zu vermehrter Durchblutung führte. Das Peptid könnte somit der Grundstein für ein Potenzmittel sein, das einer erektilen Dysfunktion nicht nur kurzzeitig, sondern längerfristig entgegenwirkt.

Doch das Spinnengift birgt noch mehr Überraschungen. So kann ein anderes isoliertes Peptid, das die Forscher PhTx-3 nannten, den durch Sauerstoffmangel verursachten Untergang von Gehirnzellen verhindern, wie er etwa nach einem Schlaganfall auftritt. PhTx-3 ist ein Kalziumkanalblocker, der die Produktion von neurotoxischem Glutamat drosselt und so die Nervenzellen schützt. Im Versuch zeigte sich, dass PhTx-3 etwa dreimal wirksamer gegen diesen Zelltod war als andere Wirkstoffe.

Herzrhythmusstörungen Laut Statistik der WHO sind Herz-Kreislauf- Erkrankungen in Industrieländern immer noch Todesursache Nummer eins. In fast der Hälfte aller Fälle sind Herzrhythmusstörungen dafür die Ursache. Selbst harmlosere Arrhythmien erhöhen das Herzinfarktrisiko beträchtlich. Damit das Herz gesund und im Takt schlägt, müssen komplexe elektrische Signale reguliert werden. Dies geschieht durch einen Ionenstrom, der durch verschiedene Kanäle in den Zellen geleitet wird. Funktionieren diese Ionenkanäle nicht richtig, gerät das Reizleitungssystem außer Takt – es kommt zum Beispiel zum Vorhofflimmern, einer unkoordinierten Erregung der Vorhofmuskulatur.

»Die Grundlagenforschung an Spinnengiften ist in vollem Gang.«

Diese Arrhythmie ist an sich nicht lebensbedrohlich, erhöht aber das Schlaganfallrisiko um das Fünffache und schwächt das Herz auf Dauer erheblich. Der normale Sinusrhythmus kann beim Vorhofflimmern durch den Einsatz von Kalziumkanalblockern wie Verapamil wieder hergestellt werden. Einen solchen Kalziumkanalblocker fanden Wissenschaftler nun auch im Toxin der Roten Chile-Vogelspinne (Grammostola Spatulata). Das GsMtx-4 genannte Protein könnte somit einem Vorhofflimmern vorbeugen.

Muskelschwund Das Vogelspinnengift könnte aber auch Hoffnung für Menschen bringen, die an der seltenen Duchenne-Muskeldystrophie leiden. Dieser fortschreitende Muskelschwund beginnt im Kleinkindalter und betrifft nur Jungen. Die Patienten sterben meist im frühen Erwachsenenalter. Verursacht wird die Erkrankung durch ein defektes Gen, was zu einer Störung der Kalziumionenkanäle führt. Das betroffene Protein Dystrophin, das diese Kanäle kontrolliert, funktioniert dann nicht mehr richtig, so dass zuviel Kalzium in die Muskelzellen einströmen kann. Hierdurch werden sie langsam zerstört und es kommt zum Muskelschwund.

Das als Kalziumkanalblocker wirkende GsMtx-4 könnte diesen Prozess verlangsamen. Im Tierversuch schlug die Substanz gut an; bis zu klinischen Studien könnten noch etwa zwei Jahre vergehen. Ob und wann ein Medikament dann zugelassen wird, ist allerdings fraglich.

Mehrere hundert Eiweißverbindungen Die Grundlagenforschung an Spinnengiften ist in vollem Gang. An der Universität Bern zum Beispiel werden die Tiere regelmäßig gemolken, um ihre Toxine genau zu untersuchen. Dazu werden die Spinnen mit Kohlendioxid betäubt und ihre Giftklauen mit Stromstößen stimuliert, bis sie das Toxin abgeben. Über 200 Eiweißverbindungen kann ein Spinnengift enthalten. Einige davon haben antibakterielle Wirkung, könnten also in Zukunft möglicherweise eine Alternative zu Antibiotika sein. Neben Bakterien zerstören die Eiweiße jedoch auch Blutkörperchen und Muskelzellen – eine Schwachstelle, an der weiter geforscht wird.

Dr. Holger Stumpf, Medizinjournalist

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