Seniorin mit VR-Brille. © Anna Frank / iStock / Getty Images
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Virtuelle Realität

SPIELEND GESUND WERDEN

Bei vielen Krankheiten kann die Virtual-Reality-Therapie helfen, zum Beispiel nach einem Schlaganfall. Und die potenziellen Einsatzgebiete der innovativen Behandlungsoption wachsen weiter …

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Einzutauchen in die virtuelle Welt, das ist für viele Menschen ein beliebtes Freizeitvergnügen, das Nervenkitzel und reichlich Spaß verspricht. Das Prinzip ist einfach: Kaum hat man die VR-Brille aufgesetzt, befindet man sich auch schon in einer anderen Umgebung, inmitten einer Handlung mit 360-Grad-Rundumblick – in der virtuellen Realität, kurz VR. Die künstliche, computergenerierte Welt ist dabei oft so realitätsnah, dass sie von der echten kaum zu unterscheiden ist. Und sie eröffnet uns bislang ungeahnte Möglichkeiten: Als Vogel durch Häuserschluchten fliegen, auf Zeitreise gehen, mit Dinosauriern durch die Landschaft streifen – in der schönen Scheinwelt ist vieles machbar, wird mancher Menschheitstraum für einen Augenblick „real“.

Dass die Technik aus der Game-Branche weit mehr kann, als unseren Spieltrieb zu befriedigen, liegt auf der Hand. Ein vielversprechendes Einsatzgebiet ist die Medizin. Forschungsergebnisse der letzten Jahre haben gezeigt, dass die Überzeugungskraft der VR-Simulation bei unterschiedlichen Krankheitsbildern therapeutisch genutzt werden kann: Erfolgreich wird die Virtual-Reality-Therapie schon seit einiger Zeit bei Angststörungen und zur Überwindung von Kriegstraumata genutzt. Die Linderung akuter und chronischer Schmerzen ist ein weiterer Anwendungsbereich. Auch in die neurologische Rehabilitation haben VR-Technologien bereits Einzug gehalten und möglicherweise können sogar Menschen mit Demenz davon profitieren. Die Forschung läuft auf Hochtouren und wird zeigen, in welche Bereiche der Medizin die VR-Therapie künftig sinnvoll eingebunden werden kann.

Auf Konfrontationskurs Ein mittlerweile recht gut erforschtes Einsatzgebiet ist die Behandlung von Angststörungen. Der Blick durch die VR-Brille kann bei solchen Ängsten und Phobien nützlich sein, die mithilfe der Konfrontationstherapie (Expositionstherapie) behandelbar sind – Höhenangst, Klaustrophobie, Flugangst und Spinnenphobie gehören dazu. Das grundlegende Prinzip der Expositionstherapie: Von einem Therapeuten begleitet stellt sich der Patient bewusst der angstauslösenden Situation – so oft, bis es ihm gelingt, die Panik davor zu überwinden. Was durch reale Konfrontation mit der Angstursache möglich ist, funktioniert auch im virtuellen Szenario. Ob „Blick in die Tiefe“, „Aufenthalt in einem engen Raum“ oder „Abheben im Flugzeug“ – viele angstauslösende Situationen und Orte können mit VR-Brille sehr realitätsnah simuliert werden.

Experten zufolge kann die virtuelle Expositionstherapie Ängste ähnlich gut reduzieren wie die Konfrontationstherapie in der Realität. Wer beispielsweise unter Höhenangst leidet, kann sich mit VR-Brille der Aufgabe stellen, Stufe für Stufe einen virtuellen Turm zu erklimmen – und so Schritt für Schritt ein beachtliches Erfolgserlebnis erzielen. Das stärkt das Selbstbewusstsein, die Selbstwirksamkeit und macht Mut, sich auch im echten Leben in die Höhe zu wagen. Und wer mit Spinnenphobie zu kämpfen hat, kann den angstauslösenden Achtbeinern in der virtuellen Welt absolut realitätsnah, aber trotzdem auf Distanz begegnen.

Mit VR-Brille gegen den Schmerz Auch Schmerzgeplagte können von einer VR-Therapie profitieren. Untersuchungen haben gezeigt, dass das Eintauchen in eine andere Welt beachtliche schmerzlindernde Effekte haben kann, die sogar nach Absetzen der VR-Brille noch stundenlang anhalten. Am Universitätsklinikum Heidelberg hat man beispielsweise festgestellt, dass der Blick durch die VR-Brille Patienten schmerzhafte Verbandwechsel erleichtern kann. Und US-amerikanische Forscher haben herausgefunden, dass starke Schmerzen von Krankenhauspatienten deutlich nachließen, wenn sie in virtuelle Realitäten entflohen – sich zum Beispiel in der Natur entspannten oder ein virtuelles Flugzeug lenkten. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass die fesselnden Erlebnisse in der künstlichen Welt die Patienten so sehr ablenken, dass sie weniger Schmerzen spüren. Im Vergleich zu anderen Ablenkungsmanövern wie Fernsehen konnte die VR-Therapie sogar deutlich stärkere schmerzlindernde Effekte erzielen.

Erfolgversprechende Kombination Chronische Schmerzen mit VR-geschützter Therapie zu Leibe zu rücken, haben sich auch Forscher der Julius-Maximilians-Universität (JMU) zur Aufgabe gemacht: Im Verbund mit Partnern setzen die Wissenschaftler erstmalig auf die Kombination von Virtual Reality und Neurofeedback. „VirtualNoPain“ heißt das aktuelle Forschungsprojekt, das darauf abzielt, die Schmerzreduktion mittels virtueller Realität zu maximieren. Als Ergänzung zur VR kommt ein Neurofeedback-Training zum Einsatz. Aus gutem Grund, denn mittels Neurofeedback können Nutzer lernen, bestimmte Gehirnaktivitäten selbst zu regulieren.

Sie erhalten dafür Rückmeldungen über Gehirnsignale, die ansonsten nicht bewusst wahrgenommen werden können. Das gute Gefühl, selbst Einfluss auf die Schmerzen zu haben, könnte sich auch lindernd auf häufige Begleiterscheinungen chronischer Schmerzen auswirken, etwa auf Depressionen oder Angstzustände, hoffen die Forscher. Herauszufinden, wie Begleiterscheinungen außerdem wirkungsvoll beeinflusst werden können, etwa durch Erzeugung positiver Emotionen in der virtuellen Realität, ist ein weiteres Ziel des Forschungsprojekts, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit knapp zwei Millionen Euro gefördert wird.

Einsatz nach Schlaganfall Eine weiteres Einsatzgebiet der Virtual-Reality-Therapie ist die neurologische Rehabilitation: Patienten, die nach einem Schlaganfall, einer Schädelverletzung oder einer Nervenschädigung Bewegung ganz neu lernen müssen, können dies mittlerweile auch in virtuellen Realitäten tun. Experten der Deutschen Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und Funktionelle Bildgebung (DGKN) sind von der Wirksamkeit dieser Methode überzeugt. Von Vorteil ist, dass es VR-gestützte Therapieverfahren ermöglichen, den Schwierigkeitsgrad individuell an den Patienten anzupassen. Zudem machen sie die Behandlung durch spielerische Elemente attraktiver.

Patienten können beispielweise am virtuellen Strand unter Palmen trainieren, Punkte im Wettkampf sammeln oder durch die VR-Brille erleben, wie ihre Arme und Beine wieder einwandfrei funktionieren. Das wirkt motivierend und kann die Anstrengungsbereitschaft steigern. Gut so, denn schließlich muss eine Hirnfunktionsstörung nach einer Verletzung aufgabenorientiert und durch viele Wiederholungen behandelt werden. Dass VR-gestützte Reha-Maßnahmen nach Schlaganfall und Co. gut funktionieren, liegt daran, dass sie das Gehirn quasi „austricksen“. Ein Beispiel: Nach einem Schlaganfall ist das Bein eines Patienten gelähmt. Setzt er nun die VR-Brille auf, sieht er dieses Bein, das sich in der virtuellen Welt viel leichter bewegen lässt als im realen Leben. Das Gehirn des Patienten reagiert auf diese Täuschung als sei der Reiz real. In der Folge kann das Bein wieder in das Körperschema integriert werden – und seine Beweglichkeit schließlich wiedererlangen.

Erinnerungen wecken Auch in Pflegeeinrichtungen könnten VR-Systeme künftig womöglich an Bedeutung gewinnen, in einigen Altenheimen kommen sie bereits heute zum Einsatz. Unter anderem, um es Demenzpatienten zu ermöglichen, eine virtuelle Reise in die Vergangenheit zu machen. Dadurch sollen Erinnerungen geweckt und ein Bezug zur früheren Lebenswelt hergestellt werden. Was überzeugend klingt, hat jedoch auch Tücken. Wenn Demenzkranke nicht mehr zwischen Realität und Fiktion unterscheiden könnten, sei das ein gravierender Eingriff in ihre Autonomie, betonen Kritiker und warnen davor, die Möglichkeiten der virtuellen Realität leichtfertig in der Medizin einzusetzen.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 04/2021 ab Seite 66.

Andrea Neuen, freie Journalistin

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