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Kino – Schon Gesehen?

MULTIPLE SCHICKSALE

Der Schweizer Regisseur Jann Kessler hat einen Film über seine schwerkranke, an Multiple Sklerose erkrankte Mutter gedreht. Gerade mal 18 Jahre alt ist er, als er ihr Leben aufzeichnet.

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Vom Kampf um den eigenen Körper: Jann Kessler ist erst fünf Jahre alt, als seine Mutter an Multipler Sklerose, kurz MS, erkrankt. Sie leidet an einer besonders schweren Form. Jann distanziert sich anfangs von seiner Mutter, zieht sich zurück und besucht sie nur selten im Pflegeheim, in dem sie aufgrund ihrer Erkrankung leben muss. Als Heranwachsender fällt es dem Jungen schwer, mit der Situation umzugehen. Seine Mutter kann längst nicht mehr sprechen und ihre Muskeln sind durch die MS zunehmend angegriffen. Im Rahmen seines Abiturprojektes möchte Jann schließlich mehr über die schwere Krankheit erfahren und schlägt einen ungewöhnlichen Weg ein: Der junge Mann begibt sich mit seiner Kamera auf eine Reise quer durch die Schweiz und trifft auf Betroffene und Angehörige sowie auf Gefühle wie Traurigkeit, Freude, Hoffnung oder Verzweiflung.

Sein Ziel ist es, der bedeutsamen Frage nachzugehen, was ein Leben lebenswert macht. Aus der Reise geht ein Film hervor, durch den die Zuschauer tiefe Einblicke in den Alltag MSKranker, den Krankheitsverlauf und in die Herausforderungen, mit denen Patienten leben müssen, erhalten. Hauptperson bleibt Kesslers Mutter, zu welcher der Regisseur immer wieder zurückkehrt. Die anderen sechs MS-Patienten sind Frauen und Männer, die mal mehr, mal weniger unter den Folgen ihrer Erkrankung leiden. Oliver zum Beispiel ist Mitte 40 und von der MS noch relativ unbeeinträchtigt. Er kann selbstständig laufen, allerdings macht ihm eine starke Müdigkeit zunehmend zu schaffen. Die 21-jährige Luana hingegen hat erst vor drei Jahren erfahren, dass sie an MS leidet und sitzt bereits im Rollstuhl.

Trotz ihres Schicksals lässt sie sich nicht hängen, sondern tätowiert sich ermutigende Worte auf den Arm und bemüht sich um eine Ausbildung. Auch Rainers Entscheidung, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen, wird von dem jungen Regisseur nicht ausgeklammert. Außerdem werden die Leben von Bernadette, die immer noch lacht, obwohl ihr gar nicht mehr danach zumute ist, von Melanie, die einen wortreichen Schutzwall um sich herum aufbaut, sowie von Graziella, die versucht, Normalität aufrechtzuerhalten, vorgestellt. Der 84-minütige Dokumentarfilm führte zunächst in den Schweizer Kinos zu einem Überraschungserfolg, bis er dann im September 2016 auch in Deutschland startete. Kritisiert wird, dass der Film Menschen, bei denen MS neu diagnostiziert wurde, aufgrund der Fokussierung auf Fälle wie Janns Mutter stark verunsichern könnte. Die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) hat darauf reagiert und bietet diesen Personen professionelle Unterstützung bei der Verarbeitung an. Denn die Mehrheit der MS-Erkrankten kann dank moderner Therapien heute jahrzehntelang ohne gravierende Einschränkungen leben.

Krankheit der 1000 Gesichter Multiple Sklerose ist eine chronisch-entzündliche, nicht ansteckende Erkrankung des zentralen Nervensystems. Nervenzellen und Teile der Nervenfasern werden bei MSPatienten durch das eigene Immunsystem zerstört. Diese wären maßgeblich an der Weiterleitung von Reizen beteiligt, sodass es folglich zu Lähmungserscheinungen und Koordinationsschwierigkeiten kommt. Schon die ersten Symptome der MS sind vielfältig, Betroffene bemerken meist Taubheitsgefühle an den Gliedmaßen und am Rumpf. Auch Sehstörungen, Abgeschlagenheit und Konzentrationsprobleme gehören zu den möglichen Frühsymptomen. Durch die Zerstörung von Nervenzellen und Markscheiden treten außerdem Beschwerden auf, welche die Motorik sowie die Sinne (etwa den Tastsinn) betreffen. Im weiteren Verlauf der Erkrankung scheiden, je nachdem welche Nerven getroffen sind, weitere Funktionen aus. In einigen Fällen geht die MS zusätzlich mit Schmerzen einher.

Schub für Schub Die körperlichen Beeinträchtigungen machen sich nach und nach in Abhängigkeit von der Ausprägung und vom Fortschreiten der Erkrankung kaum bis lebenseinschränkend bemerkbar. In der Regel beginnt die MS in unregelmäßig erscheinenden Schüben, nur selten schreitet die Krankheit von Beginn an voran, ohne sich zwischendurch zu stabilisieren. Als Schub bezeichnet man das Auftreten neuer oder bereits bekannter Beschwerden über eine Dauer von mindestens 24 Stunden. Danach verbessern sich die Symptome deutlich oder verschwinden sogar komplett. Zwischen zwei Schüben liegen wenigstens 30 Tage. Neurologische Verschlechterungen aufgrund von Hitzeexposition (Uhthoff Phänomen) oder Infektionen gelten nicht als Schübe.

Zahlreiche Therapieoptionen Trotz einer Reihe an Medikamenten ist das Nervenleiden bis heute unheilbar. Das Ziel der MS-Behandlung besteht demnach darin, funktionelle Beeinträchtigungen zu reduzieren, das Ausmaß der Entzündungsreaktionen zu senken sowie Begleitsymptome zu lindern. Man differenziert zwischen der immunprophylaktischen Behandlung, welche die Anzahl und die Schwere der Schübe abschwächt, sowie der Schubtherapie, die im akuten Fall zur Anwendung kommt. Hierfür stehen Kortikosteroide zur Verfügung. Zeigen diese keine Wirkung, kommt nach der Rücksprache mit einem MS-Zentrum eine sogenannte Plasmapherese oder Immunadsorption in Betracht. Dabei wird das Blut des Patienten durch spezielle Filter gereinigt und wieder zurückgeführt.

Im Rahmen der Langzeitbehandlung des milden Krankheitsverlaufs (First Line-Therapie) werden Interferon-beta- Präparate eingesetzt. Sie sollen das fehlgeleitete Immunsystem regulieren. Eine Alternative ist der Wirkstoff Glatirameracetat, ein künstlich synthetisiertes Präparat aus vier Aminosäuren. Seit August 2013 gibt es die erste Behandlung in Tablettenform: Teriflunomid unterdrückt die körpereigene Abwehrreaktion, vermutlich, indem es mitochondriale Enzyme hemmt und das Wachstum der Lymphozyten reduziert. Zusätzlich wurde der Wirkstoff Dimethylfumarat aufgrund seiner entzündungshemmenden und nervenprotektiven Eigenschaften 2014 als orale Basistherapie von der Europäischen Arzneimittelkommission zugelassen. Als Reservemittel der Basistherapie dienen Immunglobuline sowie die Substanz Azathioprin.

Zur Behandlung des hochaktiven Krankheitsverlaufs stehen die Wirkstoffe Natalizumab, Fingolimod, Alemtuzumab und Mitoxantron sowie Cyclophosphamid zur Verfügung (Second Line-Therapie). Zur symptomatischen Therapie von begleitenden Beschwerden kommen häufig Schmerzmittel, Antiepileptika, Antidepressiva oder Spasmolytika zum Einsatz.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 02/17 ab Seite 126.

Martina Görz, PTA und Fachjournalistin

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