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Gendermedizin

AM ANFANG WAR DAS HERZ

Männer sind anders, Frauen auch. Krankheiten können oft ganz unterschiedlich verlaufen, wie beispielsweise der Herzinfarkt. Die Behandlung sollte daher bei einigen Leiden geschlechtsabhängig variieren.

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Früher betrachtete man die Frau aufgrund ihrer physischen und psychischen Konstellation als ungeeignet für die Wissenschaft. Für die Lehrbücher stand lediglich ein männliches Neutrum im Fokus. Nur in einem Fachgebiet mühten sich Ärzte um den nicht wegzuleugnenden Unterschied zwischen Mann und Frau – in der Gynäkologie. Doch diese kümmert sich ausschließlich um weibliche Geschlechtsorgane, Fruchtbarkeit und Schwangerschaft. In der klassischen Medizin wurde zwischen den Geschlechtern kaum differenziert.

Neues Thema Mit den geschlechtsspezifischen Besonderheiten befasst sich die Gendermedizin, ein noch recht junger Ansatz. In diesem Gebiet geht man der Frage nach, welche Bedeutung das Geschlecht für Gesundheit, Prävention, Behandlung oder Reha hat. Momentan bewegt sich in dieser Fachrichtung viel: In einem Forschungsprojekt an der Universität Leipzig wird das Thema „Geschlechtsspezifische Einflüsse auf den Stoffwechsel bei der Alzheimer-Erkrankung“ untersucht, auch in der Kardiologie oder der Umweltmedizin spielt die geschlechtsspezifische Betrachtungsweise eine Rolle.

Besondere Bedeutung erhielt die Gender Medizin erstmals im Zusammenhang von Herzerkrankungen bei Frauen. Die US-amerikanischen Ärztinnen Elizabeth Barrett Connor und Bernadine Healy stellten zu Beginn der neunziger Jahre fest, dass Herzen „anders schlagen“ und bei Frauen und Männern auf unterschiedliche Weise erkranken. Beim weiblichen Geschlecht äußern sich beispielsweise die Symptome eines Herzinfarktes differenzierter, als dies bei Männern der Fall ist. In vielen Fällen treten Atemnot oder Übelkeit auf. Häufig wurden Herzerkrankungen bei weiblichen Patienten zu spät erkannt oder falsch diagnostiziert.

Der kleine Unterschied Krankheiten wie Alzheimer, Depression oder Osteoporose machen deutlich, dass Frauen anders leiden. Zudem weisen sie im Vergleich zu Männern aufgrund einer stärkeren Immunantwort heftigere Entzündungsreaktionen auf. Differenzen gibt es auch beim Schmerzempfinden sowie bei Juckreizattacken: Frauen juckt es eher an den Beinen, Männern an den Armen. Auch bei Diabetes, Schlaganfall, in der Zahnheilkunde, der Komplementärmedizin, in der Hirnforschung oder in der Psychiatrie existieren geschlechtsspezifische Unterschiede.

Individuelle Therapie Bei vielen Erkrankungen zeigen Frauen und Männer nicht nur abweichende Symptome, sie reagieren auch verschiedenartig auf Therapien. Im weiblichen Organismus wirken beispielsweise einige Opiate stärker, sodass diese im Rahmen der Schmerzbehandlung niedriger dosiert werden müssen. Dennoch sind es häufig junge gesunde Männer, die sich zu Forschungszwecken (Studien zu bestimmten Krankheiten oder Testen von neuen Medikamenten) zur Verfügung stellen.

AKTUELLES
Ende September fand in Berlin der siebte Kongress der Internationalen Gesellschaft für Gendermedizin sowie der Internationale Kongress für Geschlechterforschung in der Medizin „Junior meets Senior“ statt. Es wurden die wichtigsten und aktuellsten Forschungsergebnisse der Gendermedizin präsentiert. Ziel der Veranstaltung war, den wissenschaftlichen und persönlichen Austausch zwischen Geschlechterforschern, Ärzten, Wissenschaftlern, Studenten, Gesundheitspolitikern und allen anderen Interessierten zu fördern.

Wissenschaftler der Gendermedizin sind sich allerdings einig, dass viele Organe des menschlichen Körpers „ein Geschlecht“ besäßen. Beispielsweise funktioniere der Magen-Darm-Trakt bei Männern aufgrund aktiverer Enzyme anders als bei Frauen. Somit werden Medikamente auch verschieden schnell abgebaut. Hinzu kommt, dass der Fettgehalt im weiblichen Organismus höher ist. Arzneimittel lagern sich daher besser ab und bleiben länger im Körper. Bei Männern vernachlässigt man häufig psychologische Aspekte wie die postoperative Betreuung von Prostatakrebs im Vergleich zum Brustkrebs bei Frauen.

Geschichte Eine der Vorkämpferinnen der Gender Medizin ist die amerikanische Kardiologin und Medizinwissenschaftlerin Marianne Legato. Sie hatte bereits 1980 auf die Unterschiede von Herzerkrankungen zwischen den Geschlechtern hingewiesen. In ihrem Buch „Evas Rippe“ gab sie einen ersten Überblick über die Erkenntnisse des Forschungszweigs. Außerdem war sie Gründerin der Zeitschrift Gender Medicine, die lange das internationale Organ dieser jungen Disziplin war. Auch die WHO begann in den 1980er Jahren, sich mit dem Thema zu befassen. In Deutschland war es die Kardiologin Vera Regitz-Zagrosek, die die Geschlechterforschung in der Medizin an der Charité in Berlin einführte.

Exkurs: Psychische Funktionen Bereits in der frühen Kindheit liegen Unterschiede in der Entwicklung und in den Verhaltensweisen von Jungen und Mädchen vor. Mädchen reagieren deutlicher auf körperliche Berührung, halten länger den Blickkontakt zu Erwachsenen und lassen sich eher trösten. Außerdem können sie Fotos von bekannten und fremden Gesichtern früher unterscheiden als Jungen. Bei Mädchen sind soziale Komponenten demnach von größerer Bedeutung.

Im Erwachsenenalter bringen Frauen durchschnittlich bessere Leistungen bei verbalen Aufgaben, der Feinmotorik und der Wahrnehmungsgeschwindigkeit. Männern gelingen hingegen räumlich- konstruktive Aufgaben sowie mathematisches Schlussfolgern besser. Die Ergebnisse lassen vermuten, dass beim männlichen Geschlecht rechtshemisphärische Leistungen des Gehirns zu besseren Ergebnissen führen, bei Frauen dagegen linkshemisphärische Arbeit.

Neuroanatomische Befunde legen nahe, dass der Balken im Gehirn (Corpus callosum) bei Frauen stärker als bei Männern ausgebildet ist. Dort sind die meisten Verbindungen zwischen den beiden Hemisphären der Großhirnrinde (Kortex) lokalisiert. Lösen Frauen komplexe Aufgaben, stellt sich meist eine Aktivität beider Hemisphären ein, bei Männern ist in der Regel nur eine Seite des Gehirns angeregt. Dies könnte damit zusammen hängen, dass bei Frauen die kortikale Aktivität aufgrund des stärker ausgeprägten Corpus callosum öfter und schneller zwischen den beiden Arealen wechseln kann.

Zusätzlich weisen einige Untersuchungen aus der Neuropsychologie darauf hin, dass bei Frauen und Männern eine unterschiedliche Organisation der Kortexfunktionen stattfindet. Beispielsweise machen sich beim männlichen Geschlecht nach einem Schlaganfall deutlichere Leistungseinbußen bemerkbar als bei Frauen. Bei linkshemisphärischer Schädigung weisen Männer ein sprachliches Problem, bei rechtshemisphärischer Beeinträchtigung eine gravierende Abnahme der räumlichen Leistung auf.

Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 11/15 ab Seite 122.

Martina Görz, PTA und Fachjournalistin (FJS)

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