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Autoimmunerkrankungen

MYASTHENIA GRAVIS

Die „schwere Muskelschwäche“ – das bedeutet der Name übersetzt – wird von Autoantikörpern gegen Proteine der neuromuskulären Endplatte ausgelöst. Sie tritt belastungsabhängig auf.

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Die Myasthenia gravis ist selten – etwa zehn von 100 000 Personen sind betroffen. Die Krankheit äußert sich in einer Schwäche der Muskulatur, die sich bei Anstrengung verschlechtert. Bei der überwiegenden Mehrheit der Patienten sind Antikörper gegen den Acetylcholin-Rezeptor nachweisbar, der für die Signalübertragung zwischen Motoneuron und Muskel essenziell ist. Bei den übrigen lassen sich Antikörper gegen andere Bestandteile der neuromuskulären Endplatte finden. Eine Heilung der Myasthenia gravis ist nicht möglich, es stehen aber verschiedene Therapiemöglichkeiten zur Verfügung. Die Lebenserwartung ist bei konsequenter Therapie nicht verkürzt.

Krankheitsbild Bei der Mehrheit der Patienten betrifft die Muskelschwäche zunächst nur die Augen und äußert sich durch das Auftreten von Doppelbildern und herabhängenden Augenliedern (okuläre Myasthenia gravis). Bei neun von zehn Patienten breitet sich die Muskelschwäche in der Folgezeit aus und zieht zunehmend auch die Gesichts-, Schlund-, Hals-/Nacken- und Skelettmuskulatur in Mitleidenschaft (generalisierte Myasthenia gravis). Fast immer bricht die Erkrankung im Erwachsenenalter aus. Hier zeigen sich zwei Altersgipfel, nämlich entweder vor dem 45. Lebensjahr (überwiegend Frauen) oder danach (überwiegend Männer). Bei etwa zehn Prozent der Patienten beginnt die Krankheit bereits im Kindes- oder Jugendalter. Der Krankheitsverlauf kann von Patient zu Patient variieren. Typischerweise nehmen die Beschwerden bei Anstrengung und im Laufe des Tages zu.

Myasthene Krise Patienten, bei denen die Atem- oder die bulbäre Muskulatur (wird u. a. zum Schlucken benötigt) betroffen ist, haben ein erhöhtes Risiko, dass diese Muskeln akut versagen können. Man spricht dann von einer „myasthenen Krise“. Diese ist zwar selten, kann auch bei intensivmedizinischer Behandlung lebensbedrohlich sein.

Bei der Erkrankung ist die Übertragung der Impulse zwischen Nerv und Muskel gestört, sodass der Muskel entweder keine oder falsche Signale erhält.

Gestörte Signalübertragung Die Ursache der Myasthenia gravis sind Autoantikörper gegen verschiedene Bestandteile der neuromuskulären Endplatte. So wird die Stelle bezeichnet, wo das Axon des Motoneurons auf den Muskel trifft und das Signal zur Kontraktion übertragen wird. Im Detail: Wenn bei Gesunden ein Aktionspotenzial die Nervenendigung erreicht, wird dort der Neurotransmitter Acetylcholin in den Spalt zwischen Nervenende und Muskel ausgeschüttet. Die Acetylcholin-Moleküle binden an die Acetylcholin-Rezeptoren in der gegenüberliegenden Zellmembran der Muskelzellen. Dadurch öffnen sich dort Ionenkanäle und es entsteht ein sogenanntes Endplattenpotenzial.

Überschreitet es eine bestimmte Höhe, wird nun im Muskel ein Aktionspotenzial ausgelöst. Dies führt zur Ausschüttung von Calcium aus intrazellulären Calciumspeichern – der Muskel kontrahiert. Bei 85 Prozent der Patienten mit Myasthenia gravis lassen sich Autoantikörper gegen den Acetylcholin-Rezeptor nachweisen. Diese führen dazu, dass das Signal zur Kontraktion nicht mehr richtig auf den Muskel übertragen werden kann: Zum einen kommt es nach Bindung der Antikörper an den Rezeptor zur Aktivierung des Komplementsystems und in der Folge zu einer zunehmenden Zerstörung von Acetylcholin-Rezeptoren und der Endplattenarchitektur.

Zum anderen führen die Antikörper zu einer gesteigerten Internalisierung der Rezeptoren, sodass sie nicht mehr in normaler Menge auf der Oberfläche zur Verfügung stehen. Schließlich blockieren die Antikörper die Bindestelle für das Acetylcholin. Zwar wird bei Patienten mit Myasthenia gravis trotz allem noch ein Endplattenpotenzial generiert, aber es ist kleiner als bei Gesunden. Bei andauernder oder wiederholter Beanspruchung des Muskels fällt jedes folgende Endplattenpotenzial noch kleiner aus – bis es nicht mehr ausreicht, um ein Aktionspotenzial und damit eine Muskelkontraktion auszulösen.

Aber nicht bei allen Patienten lassen sich Antikörper gegen den Acetylcholin-Rezeptor nachweisen. Diese wurden und werden aus Tradition heraus immer noch als „seronegativ“ bezeichnet. Das ist jedoch eigentlich nicht sinnvoll, zumal man heute weiß, dass sie stattdessen Antikörper gegen andere Proteine aufweisen: gegen die Muskelspezifische Tyrosinkinase (MuSK), gegen LRP4 oder gegen Agrin. Alle diese Proteine sind wichtig, damit sich die neuromuskuläre Synapse korrekt ausbilden und der Acetylcholin-Rezeptor seine Funktion erfüllen kann. Das Endergebnis ist vergleichbar: Der Muskel kann das Signal des Motoneurons zur Kontraktion nicht mehr korrekt empfangen.

Thymus-Veränderungen Bei der Mehrheit der Patienten finden sich auch pathologische Veränderungen des Thymus. Dies legt nahe, dass ein Zusammenhang zwischen Thymus und Myasthenie besteht. Bei Gesunden spielt der Thymus eine zentrale Rolle, wenn das Immunsystem lernt, selbst von fremd zu unterscheiden. Bei dem als Toleranzinduktion bezeichneten Vorgang lernen die T-Zellen körpereigene Strukturen als solche zu erkennen und nicht gegen sie vorzugehen. Forscher gehen davon aus, dass dies aufgrund der Veränderungen des Organs nicht mehr korrekt funktioniert und es deshalb zur Ausbildung von Autoantigen-spezifischen T- und schließlich auch B-Zellen kommt. Etwa jeder zweite Patient mit Myasthenia gravis weist eine Hyperplasie des Thymus, und etwa jeder 10. bis jeder 20. Patient ein Thymom, also einen Tumor des Thymus, auf.

Therapie Für die Behandlung der Myasthenia gravis stehen heute verschiedene Optionen zur Verfügung. Medikamentös kommen zum einen Acetylcholinesterase-Inhibitoren zum Einsatz: Sie hemmen die Acetylcholinesterase, die im synaptischen Spalt Acetylcholin abbaut. Dadurch steigt die Konzentration des Neurotransmitters und die Signalübertragung auf den Muskel wird verbessert. Zum anderen werden Immunsuppressiva – besonders Glucocorticosteroide und Azathioprin – eingesetzt. Dadurch wird die Bildung der Autoantikörper, allerdings auch das Immunsystem insgesamt, gedämpft.

Reichen diese Therapieansätze nicht aus, kann zur Therapieeskalation der monoklonale Antikörper Rituximab verwendet werden. Er führt zu einer Depletion der zirkulierenden B-Zellen. Bei Exazerbationen oder einer myasthenen Krise können intravenöse Immunglobuline oder eine Elektrophorese infrage kommen. Schließlich scheint die Entfernung des Thymus (Thymektomie) einen positiven Einfluss auf den Krankheitsverlauf zu haben, besonders wenn sie innerhalb von ein bis zwei Jahren nach der Diagnosestellung erfolgt. Bei einem Thymom muss der Thymus immer entfernt werden.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 12/18 ab Seite 132.

Dr. rer. nat. Anne Benckendorff, Medizinjournalistin

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