Eine Frau die die Hand ausgestreckt nach vorne hält.© asiandelight / iStock / Getty Images Plus
Während des Lockdowns haben sich die Fälle häuslicher Gewalt gehäuft.

Missbrauch | Projekt

FAKE-ONLINESHOP GEGEN HÄUSLICHE GEWALT

Heimlich um Hilfe bitten, ohne dass der Täter es mitkriegt: Für Opfer häuslicher Gewalt hat sich eine 18-jährige Schülerin aus Warschau einen Fake-Onlineshop für Kosmetika ausgedacht. Die Initiative hat rege Nachfrage - nicht nur von Frauen.

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Das Logo zeigt Blümchen auf rosa Hintergrund, der Name klingt harmlos. „Rumianki i bratki - Kamille und Stiefmütterchen“. Doch hinter dem Internet-Auftritt eines vermeintlichen Shops für Naturkosmetik in Polen verbirgt sich ein Hilfsangebot für Opfer häuslicher Gewalt. Bittet jemand im Chat um Beratung für eine passende Hautcreme, meldet sich statt einer Verkäuferin eine Psychologin oder Juristin und fragt, wie lange die „Hautprobleme“ denn schon bestehen. Wird eine Bestellung mit Adresse aufgegeben, ist dies ein Code für eine Intervention. „Kosmetik, die die Haut rettet“, heißt es denn auch doppeldeutig auf der Seite.

Ausgedacht hat sich das eine 18-jährige Schülerin aus Warschau: Krystyna Paszko. Die EU hat ihr Projekt kürzlich mit dem Preis für zivile Solidarität und 10 000 Euro ausgezeichnet.

 

Als im vergangenen Frühjahr der Lockdown begann, hörte Krystyna vom Anstieg häuslicher Gewalt. Sie postete ihre Idee auf Facebook:

„Das sollte ein Projekt für meine Bekannten sein, ich habe gar nicht daran gedacht, das landesweit umzusetzen.“

Innerhalb weniger Tage war das Echo dermaßen groß, dass die Schülerin das Warschauer „Zentrum für Frauenrechte“ mit ins Boot holte.

Inspiriert wurde Krystyna von einer Initiative aus Frankreich. Weil es für die Opfer häuslicher Gewalt während des Lockdowns schwieriger ist, ohne Kontrolle des Täters einen Computer oder ein Telefon zu nutzen, richtete die Regierung dort ein Meldesystem in Apotheken ein. Mit dem Codewort „Maske 19“ können sich Betroffene an den Apotheke oder die Apothekerin wenden, die dann die Polizei alarmiert. Das System „Alerte Pharmacie“ werde auch nach dem Lockdown weiter aktiv bleiben, hieß es im Herbst. Prinzipiell sollen Betroffene Fälle häuslicher Gewalt in Apotheken melden können, auch ohne Passwort.

Besonders für jüngere Frauen sei der Weg zur Hilfe per Online-Chat leichter und natürlicher, findet Krystyna. „Weil es ein Chat ist, lässt es sich besser geheim halten, ein Telefongespräch kann man ja aus dem anderen Zimmer mithören.“ In mehr als 400 Fällen hat der vermeintliche Naturkosmetik-Shop schon konkrete Hilfe geleistet. Etwa 10 Prozent der Betroffenen sind Männer. Jugendliche, die sich in Polen als schwul, lesbisch, bisexuell oder transgender outen, müssten oft noch mit Schlägen von der Familie rechnen, sagt Krystyna.

„Die Statistiken der Polizei in Polen zeigen zwar keinen Zuwachs bei der häuslichen Gewalt“, sagt Joanna Gzyra-Iskander vom „Zentrum für Frauenrechte“. Das Zentrum betreibe aber auch ein Notfalltelefon, dort ergebe sich ein anderes Bild:

„Im Jahr 2019 riefen uns rund 2000 Betroffene an, im Jahr 2020 waren es mehr als 4500.“

Wenden sich die Opfer häuslicher Gewalt in Polen direkt an die Polizei, machen sie gemischte Erfahrungen, berichtet Gzyra-Iskander. Manche Beamte würden verständnisvoll reagieren und von einem neuen Recht Gebrauch machen, das seit November in Polen gilt. Die Polizei kann den Täter ohne Gerichtsentscheid aus der gemeinsamen Wohnung weisen - und ihm für zwei Wochen verbieten, sich diesem Ort zu nähern. Gzyra-Iskander berichtet:

„Manche Opfer bekommen bei der Polizei aber auch Ratschläge wie: ‚Schließen Sie sich doch einfach in ihrem Zimmer ein.‘“

Was Frauenrechtlerinnen in Polen beunruhigt: Die nationalkonservative PiS-Regierung prüft derzeit den Austritt aus der Istanbul-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Sie sieht in dem Dokument einen von angeblicher Gender-Ideologie geprägten Angriff auf die Institution von Familie und Ehe.

In Deutschland ergibt die gerade veröffentlichte Polizeiliche Kriminalstatistik für 2020, dass ein Anstieg der Gewalt in Familien und Paarbeziehungen zu den negativen Begleiterscheinungen der Corona-Beschränkungen gehört. Die Zahl der Fälle von häuslicher Gewalt, die der Polizei bekannt wurden, lag 2020 um 6,6 Prozent über dem Wert des Vorjahres. Bei Gewalt in der Partnerschaft registrierten die Behörden einen Anstieg um rund vier Prozent. Laut Bundeskriminalamt sind diese Zahlen aber nur bedingt aussagekräftig: Weil es weniger soziale Kontrolle gibt, bleibe ein Teil der zuhause begangenen Straftaten möglicherweise unentdeckt. Eine Sprecherin der Hilfsorganisation Weißer Ring sagt:

„Unsere Erfahrung zeigt, dass sich solche Gewalttaten nicht schnell in sichtbaren Zahlen niederschlagen müssen. Betroffene melden sich nicht gleich nach der Tat und auch nicht auf einen Stichtag hin, etwa nach Ankündigung von Lockerungsmaßnahmen.“

Auch die Zahlen der Organisation für 2020 zeigen einen leichten Anstieg gegenüber dem Vorjahr. Allerdings erfasst der Weiße Ring häusliche Gewalt erst seit Mai 2019 als eigenes Deliktfeld.

Krystyna Paszko freut sich, dass ihr Projekt von der EU mit einem Preis ausgezeichnet wurde. „So bekommt das Problem der häuslichen Gewalt mehr Aufmerksamkeit, auch wenn es traurig ist, dass es sich durch die Pandemie verschärft hat.“ Die begeisterte Pfadfinderin paukt gerade im Reihenhaus ihrer Eltern fürs Abitur. Bei den Pfadfindern habe sie eine wichtige Sache gelernt, sagt Krystyna: Man kann viele große Dinge tun. Man muss nur wollen.“

Quelle: dpa

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