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Bücher, von denen man spricht

MEIN LEBEN NACH DEM TOD

Dr. Mark Benecke, auch als „Herr der Maden“ bekannt – hat seine Autobiografie geschrieben. Im Buch mit dem Untertitel „Wie alles begann“ beschreibt er amüsant seinen Weg zum Forensiker.

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Benecke, das weiß ein jeder, hat sich in seinem Beruf auf die kriminalistische Spurensuche fokussiert, und hier vor allem auf das, was krabbelt und kriecht. Er kann nämlich aus dem Lebenszyklus der Insekten und Maden auf dem toten Körper unter anderem auf den Todeszeitpunkt schließen. Er hält in ganz Deutschland gut besuchte Vorträge darüber, schreibt Bücher und untersucht tatsächlich immer noch im Auftrag der Polizei den einen oder anderen ungeklärten Todesfall. Doch wie kommt man darauf, sich auf DNA-Analysen und Insektenkunde zu verlegen, wenn es zum Zeitpunkt seines Studiums höchstens die Fernsehserie Quincy gab, die Auskunft über Vorgänge in der Pathologie gab?

Und die er zudem nie gesehen hatte, da seine Eltern Fernsehen kritisch gegenüberstanden? Wohl ganz richtig vermutet er als Grund seinen Werdegang – „wie ich wurde, was ich bin“, sagt er darüber. Zum Beispiel, dass er von Kind auf einen Hang zum Tüfteln hatte, sich mit Chemie- und Physikbaukasten in seinem Zimmer amüsierte, in der Buchhandlung in „Chemie des Alltags“ schmökerte und keineswegs harmlose Experimente am häuslichen Küchentisch wagte. „Für die heimischen Versuche war die freund- liche pharmazeutische Angestellte aus der Apotheke sehr hilfreich“, erzählt er. Sie gibt ihm nicht nur stets das neue „Junior“-Heftchen („ein brauch- barer Ersatz, wenn ich mein Taschengeld wieder für „Yps“ ausgegeben hatte“), sondern verkauft ihm in diesen unschuldigen Zeiten auch ab und an ein paar Gramm Salpeter.

Er lernt „durch Zufall“, wie er sagt, viel über chemische Stoffe. Und nach freundlicher, aber deutlicher Ermahnung benutzt er den Salpeter auch nicht mehr zur Herstellung von Schwarzpulver, sondern züchtet nur noch Kristalle. Wer nun glaubt, Mark Benecke habe sich als unsozialer Nerd ohne Freunde in der Wohnung verkrochen, ist auf dem Holzweg: Auf dem Kölner Humboldt-Gymnasium, das er besucht, ist er sogar Schülersprecher und seine witzigen Auslassungen sind beinahe legendär. Er schließt die Schule mit „Eins komma irgendwas“ ab, die Note ist ihm egal, er macht erstmal Zivildienst, ausgerechnet in einem Kloster, wo die Mönche nicht viel mit ihm anzufangen wissen: Meist steht er im Keller und druckt auf einer altertümlichen Maschine Pfarrbriefe, trägt sie aus und unterhält sich ansonsten im Obergeschoss mit sehr alten Menschen über ihre Kriegserlebnisse.

Beide Seiten, Kloster wie Zivi, sind wahrscheinlich froh, als diese Zeit 1989 zu Ende geht. Mark möchte studieren, weiß aber nicht was, schaut sich dazu die Kölner Uni von innen an und besucht fröhlich so ziemlich jede Vorlesung, bis er dann weiß: Es ist die Biologie. Nach ein paar Zick-zack-Wegen kombiniert er sie mit der Zoologie, gerät durch Zufall in die Genetik, wo zu dieser Zeit das damals nagelneue Verfahren des genetischen Fingerabdruckes untersucht wird, das noch nicht einmal die Kommilitonen aus der Medizin beherrschen. Benecke, dem die unschuldige, freundliche Wissbegier eines Forrest Gump innewohnt, wendet sie jedoch in der Diplomarbeit an seinen Fadenwürmern an. Und ist damit der erste überhaupt, der die beiden Wissenschaften kombiniert, wodurch er sehr schnell in der Rechtsmedizin landet.

Da damals selbst Vaterschaften noch über Blutgruppentests und Gesichtskennungen „nachgewiesen“ wurden, steht Benecke ganz am Anfang einer sich explosionsartig entwickelnden neuen Fachrichtung. Im Sektionssaal beobachtet er erstmals das Vorhandensein bestimmter Insekten in den Körperöffnungen, die von den damaligen Forensikern als lästig empfunden und beseitigt werden. Benecke stellt einen Zusammenhang her. Wie er dann in einem amerikanischen Forschungslabor landet und als Einspieler in der auch in Deutschland ausgestrahlten Serie „Medical Detectives“ Verbrechen, Blutspritzer und Fliegenmaden erklärt, ist im Buch auf über 250 Seiten nachzulesen.

Benecke, der Privates und Arbeit aus Prinzip nicht trennt und sich immer wieder an der Buntheit seines Lebens freut, hat eine kindliche Sicht der Dinge. Da er natürlich über sich nachdenkt, vermutet er, „dass ich selbst einen Schuss Autismus in mir trage: Der berühmte Nervenarzt Hans Asperger sagte mal „dass man eben diesen Schuss Autismus brauche, um sehr detailverliebt arbeiten zu können“. Benecke empfindet sich selbst als normal, sammelt seine Comics und eine stattliche Anzahl Tätowierungen, liebt seine Frau, die wie er das Problem der Gesichtsblindheit hat, weint bei „Herr der Ringe“ und bei „Avengers Endgame“.

Er erklärt bereits im Vorspann, weshalb er seine Arbeit, die sich teilweise mit den Abgründen menschlicher Brutalität befasst, so gut bewältigt: „Ich arbeite weder für die Guten noch für die Bösen. Ich weiß nämlich manchmal gar nicht, wie ich das in einem Krieg oder Beziehungsstreit festlegen soll. Dort halten sich ja alle für die Guten. Schon gar nicht arbeite ich für die Gerechtigkeit. Was ist schon gerecht daran, wenn ein Mensch, der zur falschen Zeit am falschen Ort war, von einem antisozialen Narzissten missbraucht und erschlagen wird?“ Über die Liebe sagt er den schönen Satz: „Verliebtheit ist, rein wissenschaftlich betrachtet, nichts anderes als eine Mikro-Psychose, was mittlerweile auch in schönen Tests mit Studierenden nachgewiesen wurde.“

Seine Frau Ines, so ist in anderen Veröffentlichungen zu lesen, managt seine sozialen Netzwerke – für die interessiert er sich nicht –, schreibt die Kommentierungen, organisiert die Vortragsreihen. Sie ist über 300 Tage im Jahr mit ihrem Mann unterwegs; wenn sie mal zuhause sind, schlafen sie im Labor in der Kölner Innenstadt. Dieser Stadt ist er treu geblieben, er liebt die liberale Einstellung seiner Bewohner: „Jeder Jeck ist anders“ zitiert er häufiger und „Et is wie et is“. Benecke hat genau zwei schwarze Hosen, ein paar schwarze T-Shirts und schwarze Pullover, findet das sehr praktikabel. Und einen Anzug hat er sich gekauft, aus schwarzem Polyester, denn er ist mittlerweile Kandidat der „Partei“, der auch die Satiriker Martin Sonneborn und Nico Semsrott angehören.

Er hat sich einen Chip unter die Haut pflanzen lassen und sehnt den Tag herbei, an dem man keine Hausschlüssel, keinen Pass und sonstige Identifikationspapiere mehr braucht, sondern einfach seinen Arm an ein Lesegerät hält. Er berichtet freimütig davon, dass er sich die Körperbehaarung hat weglasern lassen, außer am Kopf. „Das ist total praktisch, weil damit Herbstgrasmilben und andere zwickende und saugende Insekten keine Chance mehr haben, einen Spaziergang auf mir zu unternehmen, wenn ich wieder mal eine Waldleiche untersuche“.

Der fleißige Benecke unterhält seit 1999 jeden Samstag eine Mini-Sendung mit aktuellen Forschungsergebnissen im öffentlich-rechtlichen Radio („egal, was am Freitagabend los war“) und hat ein Faible dafür, Dinge darzulegen: „Erklären, das wusste ich, ist die Kunst, etwas, was man wirklich verstanden hat, in kurzen Sätzen und ohne Fremdwörter darzustellen.“. Sehr lange muss er auf den Seiten des Buches nachdenken, wann er mal wirklich bei irgendjemandem angeeckt ist. „Das einzige Mal, dass meine Kolleginnen wirklich ein ernstes Wort mit mir sprachen, war wegen meinem übermäßigen Gebrauches von Irish Moos, dem Rasierwasser von 4711.“ Wenn es ja nur das ist.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 01/20 ab Seite 112.

Alexandra Regner, PTA und Journalistin

Mark Benecke:
„Mein Leben nach dem Tod. Wie alles begann“. Bastei Lübbe, Paperback, 256 Seiten, € 18,–, ISBN: 978-3-431-04133-0

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