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Bücher, von denen man spricht

MEIN JAHR ALS JÄGER UND SAMMLER

John Lewis-Stempel lebte zwölf Monate von dem, was sein Land hergab. Er sammelte Brombeeren und aß Gundermann, schoss Kaninchen und aß sie auf. Das Erlebnis veränderte sein Leben.

Seite 1/1 5 Minuten

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Der englische Journalist und Buchautor Lewis-Stempel ist in einer Sinnkrise, als er zu einer radikalen Entscheidung gelangt: Das Anwesen in einem verlassenen Tal zwischen England und Wales hat die Familie gerade erstanden, doch das Dach ist undicht und die Mauern bröckeln. Der einzige Schatz, der reichlich vorhanden ist, besteht in Land, soweit das Auge reicht. Sechzehn Hektar sind es – davon müsste sich doch ein einzelner Mann ernähren können?

Von der Zivilisation erschöpft Lewis Stempel wagt das Experiment seines Lebens: Während seine Frau und die beiden Kinder ganz normal weiterleben – mit Supermarkt und Auto und Schule in der Stadt – bleibt er zuhause. Die Gründe beschreibt er so: „Da ist noch etwas. Etwas, das mit meiner Erschöpfung zu tun hat; sie ist so groß, dass sich jede Faser meines Lebens anfühlt wie eine der Luft ausgesetzte Zahnwurzel. Könnte ich mich wieder zusammenfügen, indem ich mich und die Erde zusammenfüge?“ Der Autor besitzt den Jagdschein, er kennt sich hervorragend aus in der Natur. Der Versuch, so zu leben, ist also kein romantisches Hirngespinst.

Und der Verfasser wäre nicht Engländer, wenn die nun folgenden Beschreibungen nicht gewürzt würden mit einer feinen Prise britischen Humors: Wie er nach dem Ansetzen von Cider aus selbstgesammelten Wildäpfeln ein Massenbesäufnis seiner Schweine verursacht: „Smorty und Primrose sind betrunken. Blau. Hackedicht. Besoffen.“ – die Tochter hat sie mit dem Trester gefüttert. Wie die versehentliche Aufnahme eines halluzinogenen Pilzes (er ist irgendwie zwischen die harmlosen geraten) ihm tagelange Beschwerden verursacht („Alles leuchtete lila“.) Wie die Ausbildung des jungen Labradors Edith, die ihm das geschossene Kleinwild apportieren soll, dadurch erschwert wird, dass sich die Hündin ungern die Füße schmutzig macht. Und wie er beinahe verzweifelt, weil er den Riesen- und den Wiesen-Bärenklau nicht genau unterscheiden kann (der eine ist giftig, der andere nicht). Schließlich träufelt er sich den Saft aus dem Stängel auf den Handrücken, denn er hat furchtbaren Hunger: Keine fototoxische Wirkung heißt eine Mahlzeit, die wie Spargel schmeckt.

Sammeln, Zubereiten, Haltbarmachen Lewis-Stempel trinkt Löwenzahnkaffee aus getrockneten Wurzeln, mahlt aus Kastanien und Gänsefuß-Samen Mehl; er braut Nesselbier und setzt Holunderwein an, er frittiert Beinwell-Blätter und erfindet köstlich zu lesende Wildente-in-Cranberrysoße-​Rezepte. Der Leser erfährt, dass man Weißdorn-Blätter kauen kann und diese den schlimmsten Hunger etwas dämpfen. Aber er muss auch die sachlich-​nüchterne Beschreibung des Tötens von Tieren erdulden. Lewis-Stempel erspart dem Leser kein Detail, nicht das des Rupfens oder Häutens und auch nicht das des Ausnehmens.

Denn das gehört dazu, wenn man von der Natur lebt: Der Mann schießt Tiere, um sie zu essen. Er ist praktisch den ganzen Tag, von sechs Uhr morgens bis neun Uhr abends mit der Suche, Zubereitung und natürlichen Haltbarmachung von Nahrungsmitteln beschäftigt. Und man ist doch erstaunt zu erfahren, wie viele Pflanzen in Wald und Flur man gefahrlos essen kann. Sein absoluter Tiefpunkt: Schnecken. Die Kinder sammeln für ihn Weinbergschnecken, und es ist nicht hilfreich, dass die Tochter ihnen Namen gibt. Das Säubern der Schnecken ist selbst für ihn eklig, denn man muss sie vor dem Verzehr von allem befreien, was sie vorher gegessen haben; es könnte giftig sein. Als er sie in einen Topf mit kochendem Wasser wirft, ist ihm, als hörte er sie schreien. Er isst nie wieder Schnecken.

Veränderung von Körper und Sinnen Im Verlauf des Jahres verliert der Autor gewaltig an Gewicht, sein Körper wird sehnig und muskulös. Und es geschieht noch etwas, das er so beschreibt: „Meine Sinne sind inzwischen anders gestimmt. Ich kann Farben besser sehen, ich kann Spitzmäuse in der Hecke hören, ich kann Bestandteile statt Mischungen riechen. Mein Kopf tastet ständig seine Umgebung ab und nimmt manchmal Wildtiere wahr, obwohl ich sie weder sehen noch hören kann.“ Diese Wesensveränderung verunsichert und erschreckt ihn. Natürlich sind da auch Versuchungen. V

or allem am Anfang des Jäger-und-Sammler-Jahres überkommen ihn Halluzinationen von saftigen Burgern und köstlichem Körnerbrot; zumal seine übrige Familie direkt neben seinem selbstgesammelten Wurzelgemüse Lachsgratin aus dem Supermarkt isst. Kaum zu fassen, wie er das durchhält, kaum wahrnehmbar beim Lesen, wie es ihn verändert. Auch deshalb liest sich die Schlüsselszene am Ende des Buches wie ein Fazit: Durch einen Familienausflug an die See ist er gezwungen, am allgemeinen Picknick teilzunehmen. „Im Lauf der letzten elf Monate gab es zahllose Momente der Versuchung, in denen ich mit wässrigem Mund über genau die Art kohlenhydratreicher Speisen fantasierte, die jetzt auf der Picknickdecke verteilt ist.

Kaum habe ich die Erlaubnis, solches Essen zu konsumieren, vergeht mir der Appetit darauf. Unentschlossen knabbere ich an einem Käsesandwich; obwohl ich diesen reifen Bio-Käse früher liebte, zerlegt er sich in meinem Mund auf ekelerregende Weise in Salz und Fett. Was das Brot angeht, bringt mich seine Zähigkeit beinahe zum Würgen. Meine Begegnung mit einem Schinkensandwich verläuft nicht besser; ich kann die Angst des Schweins auf dem Weg zu seinem langwierigen Tod im Schlachthaus schmecken. Außerdem hat das Fleisch nicht die feste, muskulöse Konsistenz von Wild – Wild, das frei herumgelaufen oder geflattert ist; Wild, das dieses und jenes gefressen hat statt nur dies; Wild, dessen Fasern vom Dasein in einer vielfältigen, natürlichen Welt belebt wurden. Die Kekse schmecken fade. Der Kuchen dito. Von all den Leckereien bereiten mir nur die reinsten, naturnahesten – der Apfel, der Kaffee – Vergnügen.“

Immun gegen Burger und Pommes Noch heute, wo er sich wieder von gekaufter Nahrung ernährt, kann Lewis-Stempel „mit den westlichen Suchtstoffen Kohlenhydraten und Zucker“ nicht mehr viel anfangen. Er hat durch das Experiment zu sich selbst zurückgefunden, ist seelisch gesundet. Hinzuzufügen ist allerdings, dass sein Wagnis nicht eins zu eins auf Deutschland übertragbar ist, denn hier sind die jagdlichen Schutzbestimmungen sehr viel strenger – Schnecken wären dem Autor hier erspart geblieben, und auch Erdprimeln dürfen hier nicht gegessen werden.

Was dieses Buch außerdem auszeichnet, ist seine Sprache. Selten hat man eine solche Naturschilderung gelesen: „Rau und witzig, metaphysisch und geerdet, leidenschaftlich und ehrlich“ beschreibt es der englische Kritiker Robert Macfarlane. Dass der Autor Prosa über die ihn umgebende Natur schreiben kann, beweisen die vielen Literaturpreise, die er dafür bereits erhalten hat. Das Buch fesselt und zieht in seinen Bann und es ist jedem, der sich mit Ernährung befasst, zu empfehlen.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 09/19 ab Seite 104.

Alexandra Regner, PTA und Journalistin

John Lewis-Stempel: Mein Jahr als Jäger und Sammler. – Was es wirklich heißt, von der Natur zu leben. DuMont Buchverlag, Köln. Aus dem Englischen von Sofia Blind. 320 Seiten, gebunden mit Lesebändchen. ISBN 978-3-8321-8385-1, 22 Euro

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