Symbolbild Tinnitus © Vaselena / iStock / Getty Images Plus
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Tinnitus

MAULKORB FÜR DEN MANN IM OHR

Dank Tinnitus pfeift und piept, rauscht und rasselt es. Die akustische Modulation von Nervenzellen setzt direkt an einer der Ursachen von Tinnitus an: Sie löst die krankhafte Synchronisation in Tinnitus-assoziierten Hirnregionen gezielt auf.

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Als Tinnitus aurium, zu Deutsch „Klingeln der Ohren“, bezeichnet die Medizin „die anhaltende oder wiederkehrende subjektive Wahrnehmung eines Tons oder Geräusches ohne einen realen akustischen Reiz“. Das Ganze beschränkt sich nicht auf ein „Klingeln“: Die Palette der Töne und Geräusche ist breit und erstreckt sich von Brummen oder Rauschen über Piepsen hin zu Summen oder Pfeifen. Also keineswegs eintönig, so ein Tinnitus, im wahrsten Sinn des Wortes … Wenig tröstlich für die Betroffenen. Denn ihr permanenter akustischer Begleiter beeinträchtigt ihre Lebensqualität ganz erheblich, was sich oftmals auch sehr negativ auf das Berufs- und Privatleben auswirkt. Zudem bergen die nervigen Töne und Geräusche einige gesundheitliche Risiken – physisch wie psychisch.

Der Mann im Ohr sitzt im GehirnLange Zeit wurde der Ursprung von Tinnitus im Innenohr vermutet, nämlich in der übermäßigen Aktivität der hier befindlichen Haarzellen. Diese Aktivität, so die Annahme, wird über den Hörnerv zum Hörzentrum im Gehirn weitergeleitet und löst hier die Wahrnehmung der Töne und Geräusche aus. Entsprechend durchtrennte man Patienten mit schwerem Tinnitus früher manchmal den Hörnerv – was außer Taubheit leider keinen therapeutischen Erfolg brachte.

Der Tinnitus war immer noch da. Andere Spekulationen über die Ursache, unter anderem eine herabgesetzte Leistungsfähigkeit der Hörsinneszellen durch Durchblutungsstörungen, Entzündungen oder pathologische Lärmeinwirkung entpuppten sich ebenso als unzutreffend. Erst als die medizinische Forschung ihren Blickwinkel auf den „Mann im Ohr“ veränderte, fand sich die Lösung seines Rätsels: Er wird durch eine übermäßige synchrone Aktivität der Nervenzellen im Hörzentrum des Gehirns verursacht und sitzt demnach im Gehirn und nicht im Ohr.

Selbstgespräche der Neuronen Was die Neuronen im auditorischen Cortex, wie das Hörzentrum medizinisch heißt, hyperaktiv macht, sind zu wenige oder ganz fehlende Impulse. Da die Nervenzellen zu wenig zu tun haben, werden sie einfach selbst aktiv – indem sie beginnen, gewissermaßen mit sich selbst zu reden. Hintergrund dieser Selbstgespräche ist die sogenannte neuronale Plastizität des Gehirns. Dank ihr können sich Nervenzellen und Synapsen ebenso wie ganze Hirnareale flexibel an variierende Erfordernisse anpassen. Dieser universelle Mechanismus des Gehirns bewirkt auch, dass sich die hyperaktiven Nervenzellen des auditorischen Cortex krankhaft verstärkt vernetzen.

Manifestieren sich diese Netzwerke mit ihren synchron gesendeten Signalen, werden diese intrinsischen Töne nach einer Weile vom Gehirn erlernt. Was natürlich nicht sein soll, jedoch dazu führt, dass der Tinnitus kodiert und verankert wird – obwohl tatsächlich kein Ton oder Geräusch vorhanden ist. Zu allem Überfluss beeinflussen die pathologisch verstärkten Vernetzungen der Nervenzellen im Hörzentrum auch Bereiche im Gehirn, die nichts mit dem Hören zu tun haben: so etwa die Areale, die für die Steuerung der Emotionen und die geistige Leistungsfähigkeit verantwortlich sind. Damit ist nicht nur die auditive Informationsverarbeitung gestört, sondern auch die kognitive und emotionale. Dies verstärkt die subjektive Wahrnehmung des Tinnitus und damit den Leidensdruck der Patienten enorm.

Ursprung im Gehirn: Fehlende Impulse führen zur „Hyperaktivität“ der Neuronen im Hörzentrum.

Neuromodulation: Umerziehung der Nervenzellen Wie Hirnforscher entdeckt haben, lassen sich die überaktiven Nervenzellen „umerziehen“: indem man sie gezielt in ihrer pathologischen Synchronizität stört. Diese sogenannte Neuromodulation erfolgt durch das stetige Wiederholen von auf den jeweiligen Tinnitus exakt angepassten Tonfolgen. Sie wirken direkt auf die betroffenen Verbände der akustischen Nervenzellen ein und lösen damit ihre Desynchronisation aus. Die Therapie durch Neuromodulation macht sich demnach die gleichen Prozesse zunutze, durch die der Tinnitus einst entstanden ist: jene der neuronalen Plastizität. Damit kann das Gehirn die fälschlicherweise erlernten Töne und Geräusche nun wieder verlernen.

Therapeutische Beschallung über Kopfhörer Durchgeführt werden die heilsamen Erziehungsmaßnahmen im auditorischen Cortex in der HNO-Praxis. Zunächst wird dazu die Lautheit und Frequenz des Tinnitus von einem sogenannten CR-Programmiergerät erfasst. Anhand dessen lässt sich die für den Patienten individuell erforderliche Tonfolge zur akustischen Neuromodulation passgenau berechnen. Dieser therapeutische Sound wird anschließend auf einem CR-Neuro- stimulator programmiert: Jenem Ge- rät, das die festgelegte Tonfolge nun wiedergibt. Es hat die Größe einer Streichholzschachtel und kann entsprechend vollkommen unauffällig in einer kleinen Umhängetasche am Körper getragen werden.

An den CR-Neurostimulator sind Kopfhörer angeschlossen, über die der Patient jederzeit und beliebig oft seine Tonfolge zur Behandlung empfangen kann. Empfohlen wird, sich täglich vier bis sechs Stunden beschallen zu lassen. Da die Therapietöne nur knapp oberhalb der Hörschwelle liegen, stört der Sound den Patienten in keinster Weise bei seinen Aktivitäten. Er wird ganz im Gegenteil meist als angenehm empfunden. Insgesamt sollte die akustische Neuromodulation im Hörzentrum über mehrere Monate regelmäßig durchgeführt werden. Danach nur noch bei Bedarf, sofern der Tinnitus wieder durchklingelt.

Deutlich hörbar wirksam Dieser neurologische Therapieansatz führt offenbar zu einer deutlichen und anhaltenden Verringerung der Symptome, unabhängig von Dauer und Schwere des Tinnitus. Bereits nach zwölf Wochen stellten sich signifikante Effekte durch die Behandlung ein. Die Lautstärke der Töne oder Geräusche und die Belastung dadurch verminderten sich um etwa dreißig Prozent. Zugleich verbesserte sich der Tinnitus bei siebzig Prozent der Patienten um mindestens einen Schweregrad. Diese positiven Wirkungen waren sogar auch nach einer vierwöchigen Therapiepause noch nachweisbar.

Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 11/2020 ab Seite 114.

Birgit Frohn, Diplombiologin

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