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Charakteristisch für das Tourette-Syndrom sind sogenannte Tics. © SIphotography / iStock / Thinkstock

Tourette-Syndrom

LEBEN MIT TICS

Blinzeln, schniefen, räuspern, Obszönes sagen – immer wieder, unwillkürlich. Viele Menschen leben mit Tics. Treten sie kombiniert über einen längeren Zeitraum auf, heißt die Diagnose oft „Tourette-Syndrom“.

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Dem französischen Neurologen Georges Gilles de la Tourette (1857–1904) verdankt das Tourette-Syndrom seinen Namen. Bereits mit 28 Jahren veröffentlichte der junge Wissenschaftler seine Studie zur „Krankheit der Tics“. Als erster erkannte Tourette in sehr unterschiedlichen Tic-Störungen ein gemeinsames Krankheitsbild – und gelangte durch seine Entdeckung zu Weltruhm. Heute, mehr als 130 Jahre später, ist das Tourette-Syndrom zwar gut erforscht, doch sind die Ursachen nach wie vor nicht vollständig geklärt.

Auch heilen lässt sich die neuropsychiatrische Erkrankung bislang nicht – doch gibt es eine Reihe erfolgversprechender Behandlungsstrategien. Charakteristisch für das Tourette-Syndrom sind sogenannte Tics. So heißen plötzliche Bewegungen, wie beispielsweise Grimassen schneiden, Blinzeln, Hüpfen oder Gegenstände berühren, sowie Lautäußerungen, etwa Hüsteln, Räuspern, Summen oder Fluchen, die zweckungebunden sind und unwillkürlich ablaufen. Jedoch: Nicht hinter jedem Tic steckt ein Tourette-Syndrom.

Davon sprechen Experten, wenn zu multiplen motorischen Tics (Muskelzuckungen) mindestens ein vokaler Tic hinzukommt – wobei nicht alle gleichzeitig auftreten müssen. Unter den Begriff Tourette-Syndrom fallen auch Tics, die mehrfach täglich – gewöhnlich in Serien – ohne Rückbildung und über einen längeren Zeitraum von einem Jahr auftreten. Die Symptome können womöglich zwar wochen- oder gar monatelang verschwinden, aber genauso plötzlich wiederkehren. Das Tourette-Syndrom beginnt fast immer im Kindes- und Jugendalter vor dem 18. Lebensjahr.

Mal einfach, mal komplex Mediziner unterscheiden zwischen motorischen und vokalen Tics sowie zwischen einfachen und komplexen. Einfache motorische Tics treten oft als unwillkürliche Muskelzuckungen auf, die häufig im Gesicht und Kopfbereich lokalisiert sind: Plötzlich einsetzendes, schnelles Augenzwinkern, Stirnrunzeln und Schulterzucken sind einige Beispiele. Typisch für komplexe motorische Tics sind abrupt beginnende, mitunter sehr heftige Bewegungen wie Klopfen, Stampfen, Schlagen oder in die Hocke gehen.

Einfache vokale (phonetische) Tics wie Grunzen oder Räuspern unterscheiden sich von komplexen wie Schreien oder Wiederholen von Wörtern beziehungsweise Sätzen. Bekannte Sonderformen komplexer motorischer Tics sind die Kopropraxie, sprich das Zeigen obszöner Gesten, und die Echopraxie, das Imitieren von Bewegungen anderer Personen. Zu den Sonderformen komplexer vokaler Tics gehören unter anderem die Palilalie, also das Wiederholen bestimmter Silben und Wörter, die Echolalie, das Nachsprechen von Gehörtem, sowie die Koprolalie, das Ausrufen obszöner Wörter.

Die Koprolalie, die die neuropsychiatrische Krankheit in Filmen und Dokumentationen bekannt gemacht hat und von medizinischen Laien oft als DAS charakteristische Merkmal des Tourette-Syndroms angesehen wird, tritt lediglich bei 10 bis 20 Prozent der Betroffenen auf. Wichtig zu wissen ist auch, dass der Begriff „unwillkürlich“, der im Allgemeinen zur Beschreibung der Tics verwendet wird, missverständlich interpretiert werden kann.

Darauf weist die Tourette-Gesellschaft Deutschland hin. Der Grund: Sehr viele Menschen mit Tourette-Syndrom haben ein Vorgefühl von einem Tic beziehungsweise eine gewisse Eigenkontrolle über die Symptome. Das heißt: Sie sind in der Lage, motorische oder vokale Tics eine Zeitlang hinauszuzögern. Jedoch: Das Unterdrücken – etwa am Arbeitsplatz oder in der Öffentlichkeit – hat sehr oft eine besonders heftige „Tic-Entladung“ zu einem späteren Zeitpunkt zur Folge. Im Gegensatz zu „Marotten“ kann man sich Tics nicht abgewöhnen.

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Ursachen unklar Über die genauen Ursachen von Tic-Störungen und Tourette-Syndrom wird nach wie vor gerätselt. Vermutet wird ein gestörter Stoffwechsel des Neurotransmitters Dopamin und eventuell auch anderer Botenstoffe im Gehirn. Das Gehirn von Menschen mit Tics scheint außerstande zu sein, körperliche Bewegungen zu regulieren. Bei der Entstehung von Tics kann eine entsprechende genetische Disposition eine Rolle spielen, in vielen Familien kommen sie gehäuft vor. Als Auslöser spielen eventuell auch bakterielle Infektionen mit Streptokokken eine Rolle.

Zudem werden bestimmte Risikokonstellationen in der Schwangerschaft als Auslöser diskutiert: Faktoren wie psychosozialer Stress, Rauchen, Alkohol- oder Drogenkonsum der werdenden Mutter könnten das Auftreten von Tics bei den Kindern begünstigen. Letztlich bewiesen und abschließend geklärt ist alles das jedoch noch nicht. Fest steht hingegen, dass Tics sehr oft im Grundschulalter auftreten und die Symptome häufig zwischen dem zehnten und zwölften Lebensjahr am stärksten ausgeprägt sind.

Schätzungen zufolge sind bis zu 15 Prozent der Grundschüler vorübergehend von Tics betroffen, die nach Wochen bis Monaten wieder verschwinden. Wesentlich seltener als ein vorübergehender Tic tritt das Tourette-Syndrom auf: Die komplexe Erkrankung betrifft schätzungsweise ein Prozent der Bevölkerung. Typischerweise ist sie in der Pubertät besonders stark ausgeprägt und begleitet Betroffene ein Leben lang.

Heilbar ist das Tourette-Syndrom nicht, jedoch bildet sich die Symptomatik im jungen Erwachsenenalter mitunter vollständig zurück. Meist kommen chronische Tic-Störungen und Tourette-​Syndrom nicht allein: Sehr viele betroffene Kinder zeigen Verhaltensauffälligkeiten wie eine Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS), gesteigerte Impulsivität und geringe Frustrationstoleranz. Auch Zwangs-, Angststörungen und Depressionen treten gehäuft auf.

Hoher Leidensdruck Vor allem schwer ausgeprägte Tics, die gar nicht oder nur sehr kurzzeitig kontrollierbar sind, gehen für viele Betroffene mit einem hohen Leidensdruck einher. Kinder mit den „seltsamen Verhaltensweisen“ werden von Gleichaltrigen mitunter ausgegrenzt und von Erwachsenen, die nicht über die Krankheit Bescheid wissen, als „unerzogene Störenfriede“ wahrgenommen und aufgrund ihres „provokanten Verhaltens“ abgelehnt.

Sowohl die Tics selbst als auch das Unverständnis der Umwelt können am Selbstwertgefühl der jungen Menschen nagen und dazu führen, dass sie aus der seelischen Balance geraten. Um dies zu verhindern, sind eine frühe Diagnostik, eine individuell geeignete Behandlung und ein möglichst offener Umgang mit der Erkrankung erforderlich. Die Therapie orientiert sich an der Ausprägung der Symptomatik und am Grad der psychosozialen Beeinträchtigung des Einzelnen. Meist stellt bereits die Aufklärung und Beratung Betroffener, Angehöriger und Lehrer, die sogenannte Psychoedukation, eine deutliche Entlastung dar.

Eine medikamentöse Behandlung kann die Symptomatik lindern. Häufig verordnen Mediziner atypische Antipsychotika wie Risperidon oder Benzamide wie Tiaprid und Sulpirid. Mitunter zeigen Botulinumtoxin-Injektionen eine positive Wirkung, auch Cannabis ist in den Fokus der Forschung gerückt. Verhaltenstherapeutische Maßnahmen zeigen bei vielen Menschen mit Tourette-Syndrom große Erfolge, ergänzend kann das Erlernen von Entspannungstechniken hilfreich sein. Operative Eingriffe am Gehirn kommen nur sehr selten infrage, eventuell dann, wenn schwerste Tics zu Selbstverletzungen führen.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 03/18 ab Seite 122.

Andrea Neuen, Freie Journalistin

Infos, Rat und Hilfe

Ausführliche Informationen über das Tourette-Syndrom bekommen Interessierte auf der Homepage „Neurologen und Psychiater im Netz“ Rat, Hilfe und Unterstützung für Betroffene und Angehörige bietet die Tourette-Gesellschaft Deutschland e. V.

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