© DIE PTA IN DER APOTHEKE
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Bücher, von denen man spricht

KOMISCH, ALLES CHEMISCH

Warum Unordnung gar nicht so schlimm ist und was sie mit dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik zu tun hat, das beschreibt auf unnachahmliche Weise die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim in ihrem Bestseller – über Chemie.

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Wenn nicht alle immer von diesem Buch geredet hätten, wenn nicht die Verfasserin, eine bildhübsche, eloquente Fee namens Mai Thi Nguyen-Kim in meiner Lieblingstalkshow gesessen hätte: nein, ich hätte nie einen Blick hineingeworfen. Chemie gehörte eher nicht zu meinen Lieblingsfächern während der PTA-Ausbildung. Ich fand das alles sehr schwer verständlich. Ein Salz bedeutete für mich ausschließlich das Natriumchlorid in der Küche und eine Redox-Reaktion, tja, die gibt mir bis heute Rätsel auf. Hab ich am HV auch noch nie gebraucht.

Alles begann bei YouTube Und da kommt sie nun daher, und stimmt mir bei. „Wissenschaft ist wie ein elitärer Club mit geheimer Codesprache“, sagt sie und sie findet es absurd, dass ein Laie sie nicht verstehen kann: „Denn ein Großteil der Forschung wird von öffentlichen Geldern finanziert. Die Steuerzahler können also gar nicht nachvollziehen, was mit ihrem Geld genau gemacht wird.“ Deswegen hat Mai Thi Nguyen-Kim einen YouTube-Kanal gegründet. In „maiLab“ erklärt sie alles, was mit Chemie zu tun hat, und sie ist damit so erfolgreich, dass sie mittlerweile Ranga Yogeshwar in „Quarks“ zur Seite steht und seit neuestem eine eigene Wissenschaftssendung bei ZDFneo bekommen hat. Ihr YouTube-Kanal hat 1,11 Millionen Abonnenten, die Bundeskanzlerin hat sie in einer Ansprache zum Corona-Virus erwähnt und zur Journalistin des Jahres wurde sie auch gewählt. Daran konnte auch ein Chemie-Muffel wie ich nicht vorbei.

Mai Thi, deren Nachname Nguyen von ihren vietnamesischen Eltern stammt, hat sich die Vermittlung von Wissenschaftsjournalismus zur echten Mission gemacht. Das Chemie-Gen hat sie übrigens vom Papa, „der meinen Bruder und mich so inspirierte, dass wir beide auch Chemiker wurden“. Und dann stürzt sie sich hinein in das pralle Leben. Auf 256 Seiten erklärt sie auf umwerfende Weise, warum alles in ihrer Lieblingswissenschaft begründet ist (Kaffee, Handy, Zahnpasta, Teflon-Pfannen); sie macht es so, dass sogar ich es verstehe, und das will was heißen. (Spoiler: warum wir uns in jemanden verlieben, kommt auch drin vor. Endlich habe ich kapiert, worum es eigentlich geht.)

Die Wissenschaft vom Kaffee Ein wirklich harter Brocken war das mit dem Kaffee. Dass das Koffein-Molekül dem Adenosin-Teil so ähnlich sieht, dass unser Körper es verwechselt, hatte ich schon mal gehört. Adenosintriphosphat wird bei Energiebedarf ausgeschüttet, macht und wach und aufmerksam. Wenn wir Koffein zu uns nehmen, setzt es sich an die Adenosin-Rezeptoren und fegt sogar vorhandenes Adenosin hinweg, um die Andockstellen selbst zu kapern. Unser Körper bemerkt das Täuschungsmanöver nicht – und wir denken, wir sind wach. Wir (also ich) trinken den Kaffee morgens nach dem Aufstehen, obwohl wir es gar nicht müssten, sagt Mai Thi.

Denn das Morgenlicht kurbelt von ganz allein die Cortisolproduktion an, ein Hormon, das uns wachmacht (so wie uns aufgrund des mangelnden Tageslicht abends die Melatoninproduktion müde macht). Man sollte eine Stunde warten und nicht einfach den Kaffee obendrauf kippen, denn sonst regelt der Körper seinen morgendlichen Stressservice herunter. Eine Stunde! Wie gut, dass nicht mal die Autorin diesem Diktat folgen mag und sich erstmal einen einschenkt: „Es gibt nämlich nichts Besseres als ein warmes Getränk, um die Welt in Molekülen zu sehen.“ Und dann erklärt sie mal eben die drei Hauptsätze der Thermodynamik. Auf Seite 24 war ich bereits das erste Mal von meiner eigenen Intelligenz begeistert! Und das, liebe Leserin beziehungsweise lieber Leser, soll Ihnen auch so gehen!

Die Sache mit der Unordnung Sie werden plötzlich verstehen, warum Polytetrafluorethylen (auch bekannt unter dem Handelsnamen Teflon) so schnell nichts trennen kann, warum man Seife kochen kann und dass einer einzelnen wissenschaftlichen Studie nicht zu trauen ist, übrigens am Beispiel „Sitzen ist das neue Rauchen“. Sehr beruhigt hat mich persönlich der Satz, dass für kreative Menschen Unordnung zwingend notwendig ist und dass Chaos sowieso immer von ganz allein entsteht: „Jeder freiwillige Prozess in diesem Universum, sei er physikalisch, chemisch oder biologisch, führt zu einer größeren Unordnung als zuvor, es sei denn, man wendet Arbeit und Energie auf, um diesen Prozess umzukehren oder aufzuhalten – und es sei denn, ich räume meinen Schreibtisch auf.“

Die Entropie im Universum nimmt immer zu. Entropie ist der wissenschaftliche Name für Unordnung, hört sich gleich viel gebildeter an. Und kreative Menschen, so wie Sie und ich einer sind, brauchen dieses Gewurschtel, denn es gibt uns die Möglichkeit, „Dinge in einem ungewöhnlichen Kontext zu sehen, nicht verwandte Dinge miteinander zu verknüpfen: Unordnung scheint uns dabei zu helfen.“ Sagt Mai Thi Nguyen-Kim, und ich fühle mich gleich viel besser, was Sie auch tun sollten, denn: Das alles steht im Zusammenhang mit dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik.

Liebe PTA in der Ausbildung, falls ihr gerade das Grundprinzip der Batterie durchnehmt mitsamt Kathoden, Anoden und den wandernden Ionen, schlagt Seite 115 auf, dann versteht ihr es, weil die Autorin es nämlich auf einen Gegenstand bezieht, den wir alle besitzen. Ohne den wir einfach nicht mehr sein können, den wir niemals zurücklassen würden: unser Handy. Jetzt habe ich auch keine Angst mehr vor explodierenden Akkus, weil nämlich die Lithium-Ionen-Batterie, die in meinem Handy verbaut ist, automatisch abschaltet, wenn sie vollgeladen ist. Und weil beim Laden am Minuspol des Handys eine Reduktion, am Pluspol hingegen eine Oxidation stattfindet, wurde auch endlich die Redox-Reaktion verständlich, die ich meinen Kunden das nächste Mal gern erkläre, falls mal jemand danach fragt.

Von der Schokolade zur Doppelbindung Am Schluss ihres Tages, an dem die Wissenschaftsjournalistin die Chemie der uns umgebenden Dinge erklärt, geht es in die Küche. Alle Chemiker können gut kochen, sagt sie, und den Satz habt ihr bestimmt auch schon einmal mit dem Subjekt „PTA“ gehört. Backen ist zum Beispiel die pure Chemie und sie bereitet gleich mal ein Fondant-au-Chocolat zu (mit Rezept), also kleine Küchlein mit flüssigem Schokoladenkern. Sie erklärt dabei die nicht besonders großen Unterschiede zwischen Koffein und Theobromin, warum letzteres für Haustiere tödlich sein kann (für uns aber nicht so schnell) und anhand des großzügigen Kleckses Butter in der Schokimasse auch gleich die Geschichte mit den ungesättigten und gesättigten Fettsäuren.

Mit dem gezeichneten Heimexperiment Nr. 4, das drei Zahnstocher und vier Cherrytomaten benötigt, werden Sie dann auch den Unterschied zwischen Einfach- und Doppelbindung begreifen. Die Chemie der Liebe („Oxytocin ist ein sehr hübsches Molekül, wie ich finde“) wird beinahe übergangslos zur Alkoholdehydrogenase weitergeleitet und zum Mainzer Karneval; wie sie das schafft, ist einfach unnachahmlich. Aber lesen Sie einfach selbst: Nicht nur während der PTA-Ausbildung ist das Buch sehr zu empfehlen.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 04/2021 ab Seite 140.

Alexandra Regner PTA und Medizinjournalistin

Dr. Mai Thi Nguyen-Kim Komisch, alles chemisch. Wie man mit Chemie wirklich alles erklären kann
Illustriert von Claire Lenkova Droemer HC/ 256 Seiten / 16,99 Euro ISBN: 978-3-426-27767-6

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