Zwei Gebäudeteile von Schloss Gracht spiegeln sich in der sie umgebenden Wasseranlage.© Convensis Group GmbH / Dr. Karsten Wolf AG
Die Akutklinik Schloss Gracht ist umgeben von Wasser- und Parkanlagen.

Interview mit Dr. Wolf

WIR WOLLEN UNS NICHT MEHR AUSPRESSEN LASSEN WIE EINE ZITRONE“

Der Wille kontrolliert den Körper – das lehrte uns Descartes schon vor über 350 Jahren. Denken und Fühlen sind verschiedene Dinge, wobei wir das Denken oft als wichtiger oder nobler betrachten. Dabei ist Körperlichkeit essenziell. Was ist Präsenz und wie nutzt man sie therapeutisch?

Seite 2/3 11 Minuten

Wir sind ein Gegenentwurf, wir sind zum Zufluchtsort geworden.

Wie beeinflusst die Pandemie Ihre Arbeit in der Klinik?
Die Corona-Krise bringt uns mehr Patienten. Ambulant merken wir das schon, wir haben eine höhere Nachfrage nach Psychotherapie. Auf der anderen Seite sind wir jetzt zufällig ein Gegenentwurf, wir sind zum Zufluchtsort geworden. Wir sind bei uns in der Klinik ja spezialisiert auf Präsenztherapie. Bei uns geht es viel um Körpertherapie, um Sporttherapie, Naturtherapie. Und wir haben einen großen Innenhof, in dem sich die Patienten geschützt aufhalten können und immer noch eine Nahbarkeit haben, trotz all der Regularien.

Wie kamen Sie auf die Idee, eine ganze Klinik für Präsenztherapie zu eröffnen?
Ich komme aus der Emotions- und Bindungsforschung. Deshalb hat mich das Thema immer fasziniert. Dann habe ich Gumbrecht kennengelernt, ich bin mittlerweile mit ihm befreundet. Und ich war einfach fasziniert von dieser Idee, die er hatte. Ich habe auch gemerkt, da gibt es eine Riesennachfrage. Gumbrecht ist ja weltweit unterwegs und wird gehört. Ich bin überzeugt davon, dass wir uns tatsächlich in einem Paradigmenwechsel befinden. Wir merken, wir brauchen wieder mehr von dem, was er alles unter Präsenz fasst.

Und wie haben Sie diesen Paradigmenwechsel in eine Therapie übersetzt?
Den Ansatz haben wir aus der fernöstlichen Achtsamkeitstherapie in die westliche Psychiatrie mitgenommen. Wir haben es ausprobiert, auf der Station meiner früheren Klinik. So konnten wir erleben, wie dieser interessante Ansatz den Patienten weiterhilft.

Und dann haben Sie das im großen Maßstab umgesetzt und im September 2019 eine ganze Klinik eröffnet, die auf Präsenz ausgerichtet ist?
Genau. Denn wenn nur eine Station den Ansatz verfolgt, steht sie ja in Verbindung mit den anderen Stationen. So kann man natürlich nicht das gesamte Team, auf diesen Gedanken einschwören. Dabei ist das wichtig. Nur dann entsteht in einem Gesamtkomplex wie einer Klinik die Atmosphäre um Präsenzerleben entstehen zu lassen.

In beengten Räumen, in eckigen, dunklen Räumen, fühlen wir uns nicht wohl.

Dazu haben Sie auch die Einrichtung bewusst ausgewählt. Die Interior-Designerin Sylvia Leydecker hat die historischen Komponenten von Schloss Gracht mit modernen Elementen verbunden. Ist das wichtig für den Heilungserfolg?
Auf jeden Fall! Sylvia Leydecker war fasziniert von dem Thema Präsenz. Sie hat sich intensiv eingearbeitet und eingebracht. So hat sie Räume geschaffen, die Behaglichkeit und einen familiären Aspekt geben. Die ein Präsenzerleben fördern – und da bieten sich Schlossräume tatsächlich an.

Gibt es dazu auch Studien?
Wir arbeiten mit dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, dem UKE, zusammen. Professor Gallinat investiert dort aktuell viel in „Healing Architecture“. Er konnte zeigen: Es gibt Räumlichkeiten, die Menschen stressen. In beengten Räumen, in eckigen, dunklen Räumen, fühlen wir uns nicht wohl. Auch Farben wirken auf den Menschen.

Welche Farben denn?
Wir wissen, dass die Natur mit ihrem vielen Grün heilend ist. Durch Experimente wissen wir auch, dass Menschen, die allein die Farbe Grün erleben, gesünder sind.

Brauchen psychisch Erkrankte generell eine ansprechende Umgebung, auch zu Hause?
Für einen Patienten ist das ganz entscheidend. Alle psychisch Erkrankten sind hochsensibel. Sie haben nicht die Resilienz, Dunkelheit mal eben wegzustecken.

Bei uns gibt es keine Barrieren mehr.

Und wie lief die Einrichtung ab, hat da wirklich jemand die Stoffe der Sessel probegefühlt?
Im Grunde genommen schon. Das fing im Eingangsbereich an. Früher war Schloss Gracht ein Seminarhotel mit einer klassischen Rezeption, einer Theke. Wir haben uns überlegt, wie können wir diese Barriere, die ja Präsenz verhindert, abbauen? Frau Leydecker hat die ganze Rezeption herausgerissen. Sie hat stattdessen eine Marmorstele aufgestellt, an der man nebeneinander steht. Und dann gibt es Sessel, die sehr gemütlich und aufeinander ausgerichtet sind. Dort sitzt man für die Aufnahme. Bei uns gibt es keine Barrieren mehr. Um einfach immer die Präsenz zu fördern, das Gefühl: Da ist jemand.

Dann tragen alle Mitarbeiter den Präsenzgedanken mit?
Ja. Das ist für die Mitarbeiter extrem herausfordernd. Es ist leichter, sich zurückzuziehen. So muss man bei einem sensiblen psychiatrischen Patienten die Nähe-Distanz-Regulierung hinkriegen, auf ihn zugehen, bei ihm sein. Aber für den Patienten lohnt sich das allemal.

Haben Sie Ihre Mitarbeiter dann alle speziell geschult?
Ja, das haben wir gemacht. Und das hat sich am Ende auch gelohnt. Alle haben mitgearbeitet und mitgedacht, wie man die Klinik einrichten kann.

Wir wollen uns nicht mehr auspressen lassen wie eine Zitrone“

×