Gehirn auf dunklem Hintergrund und drum herum sind Puzzle Teile und Medikamente© ipopba / iStock / Getty Images Plus
Ein neu entwickelter Immuno-Infrarot-Sensor ist in der Lage ist, erste Anzeichen für Alzheimer im Blut bis zu 17 Jahre vorher zu identifizieren.

Immuno-Infrarot-Sensor

FRÜHERKENNUNGSSYSTEM FÜR ALZHEIMER

Betroffene werden zunehmend vergesslich, sind verwirrt und orientierungslos. Die Rede ist von Morbus Alzheimer. Treten die ersten Symptome auf, ist der Krankheitsprozess nicht mehr aufzuhalten. Was wäre, wenn man bereits vor den ersten klinischen Symptomen die Krankheit bei Menschen identifizieren könnte?

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Eine Erkrankung von Morbus Alzheimer kann bis zu ihrem Ausbruch bei Betroffenen 15 bis 20 Jahre symptomfrei verlaufen und vor sich hinschlummern, bevor die ersten Symptome auftreten. Einem Forscherteam aus Bochum ist es nun gelungen, einen Immuno-Infrarot-Sensor zu entwickeln, der in der Lage ist, erste Anzeichen für die Erkrankung im Blut bis zu 17 Jahre vorher zu identifizieren.

„Unser Ziel ist es, noch bevor sich die toxischen Plaques im Gehirn ausbilden können, das Risiko, später an Alzheimer-Demenz zu erkranken, mit einer einfachen Blutuntersuchung zu bestimmen – damit eine Therapie rechtzeitig starten kann“, so Professor Dr. Klaus Gerwert, Gründungsdirektor des Zentrums für Proteindiagnostik (PRODI) der Ruhr-Universität Bochum. Sein Team kooperierte für die Arbeiten mit einer Gruppe am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg (DKFZ) um Professor Dr. Hermann Brenner. 
 

ESTHER-Studie

Das Forscherteam um Gerwert untersuchte Blutplasma von Probanden, die an der im Saarland durchgeführten ESTHER-Studie teilgenommen hatten, auf mögliche Alzheimer-Biomarker. Die Blutproben waren den Teilnehmern zwischen den Jahren 2000 und 2002 entnommen und im Anschluss eingefroren worden. Keiner der Probanden, die sich alle zu diesem Zeitpunkt in einer Altersspanne von 50 bis 75 Jahren befanden, hatte bis dato eine Alzheimer-Diagnose erhalten. 

Für die jetzige Studie hatten die Forscher insgesamt 68 Probanden ausgewählt, die innerhalb der 17-jährigen Nachbeoachtungsphase eine Alzheimer-Diagnose bekommen hatten. Ihnen wurde eine Kontrollgruppe mit 240 Teilnehmern gegenübergestellt, die nicht an Alzheimer erkrankt waren. Die Wissenschaftler hatten sich zum Ziel gesetzt herauszufinden, ob sich in den Blutproben zu Beginn der Studie bereits Anzeichen für eine Alzheimer-Erkrankung finden ließen.
 

Immuno-Infrarot-Sensor identifiziert Betroffene

Alle 60 Teilnehmer, die zu einem späteren Zeitpunkt an Alzheimer erkrankt waren, konnten mittels des Immuno-Infrarot-Sensors identifiziert werden. Hierbei lag eine hohe Testgenauigkeit vor. Um einen Vergleichswert zu bekommen, untersuchte das Team um Gerwart weitere Biomarker mit der komplementären, sehr empfindlichen SIMOA-Technologie – insbesondere den P-tau181-Biomarker, der in verschiedenen Studien derzeit als vielversprechender Biomarkerkandidat vorgeschlagen wird. „Im Gegensatz zur klinischen Phase ist dieser Marker für die frühe symptomfreie Phase von Alzheimer aber nicht geeignet“, so Gerwert zu den Ergebnissen der Vergleichsstudie.

„Überraschenderweise haben wir aber festgestellt, dass die Konzentration des Gliafaserproteins (GFAP) bis zu 17 Jahre vor der klinischen Phase die Erkrankung anzeigen kann, allerdings deutlich weniger präzise als der Immuno-Infrarot-Sensor.“ Es ist den Forscher gelungen, aufgrund der Kombination von Amyloid-beta Fehlfaltung und GFAP-Konzentration die Reliabilität des Tests im symptomfreien Zustand weiter zu erhöhen.
 

Start-up betaSENSE

Was aber bringt nun eine solche Früherkennung? Das Forscherteam hofft, dass eine wesentlich frühere Diagnose mit Hilfe der Amyloid-beta-Fehlfaltung dazu führen kann, Alzheimer-Medikamente zu einem so frühen Zeitpunkt einsetzen zu können, dass sie eine bessere Wirkung entfalten. In den USA wurde ein solches Medikament mit dem Namen Aduhelm vor kurzem zugelassen. 

„Wir möchten mit dem Fehlfaltungstest eine Vorsorge für ältere Menschen etablieren und ihr Risiko bestimmen, an Alzheimer-Demenz zu erkranken“, so Gerwert. „Die Vision unseres neu gegründeten Start-ups betaSENSE ist es, dass die Erkrankung in symptomfreiem Zustand gestoppt werden kann, bevor irreversible Schäden entstehen.“ Aktuell befindet sich der Sensor noch in der Entwicklungsphase, wurde aber bereits weltweit patentiert. Jetzt ist es die Aufgabe des Start-ups, sowohl die Marktreife als auch die Zulassung als Diagnosegerät für den Sensor zu bekommen. Im Anschluss könnte es dann in klinischen Laboren zum Einsatz kommen. 
 

Klinische Studien scheitern oft am Zeitpunkt der Therapieansätze

Im Frühjahr 2021 wurde in den USA von der FDA das Medikament Aduhelm zugelassen. Dieses Präparat kann nachweislich Amyloid-beta-Playques im Frühstadium abbauen. Leider ist der Effekt auf Symptome wie Gedächtnisverlust und Orientierungslosigkeit mit diesem Medikament geringer als angenommen. Dies war auch der Grund, warum die europäische Arzneimittelbehörde EMA im vergangenen Winter zu der Entscheidung kam, dass Medikament in Europa nicht zuzulassen. 

„Bisher scheiterten reihenweise klinische Studien für Alzheimer-Medikamente offenbar an dem zu späten Zeitpunkt für die Therapieansätze, weil die in den Studien eingesetzten etablierten Plaque-Tests die Erkrankung offensichtlich nicht rechtzeitig anzeigen“, erklärt Gerwert. „Anscheinend erzeugen die einmal abgelagerten Plaques irreversible Schäden im Gehirn.“

Bei den bislang eingesetzten Tests ist es so, dass die Plaques entweder mit der aufwändigen und teuren PET-Scan-Technologie direkt im Gehirn nachgewiesen oder indirekt weniger aufwändig anhand von Protein-Biomarker-Konzentrationen im invasiv gewonnen Nervenwasser mit der ELISA- oder Massenspektrometrie-Technologie bestimmt werden. 

Der Immuno-Infrarot-Sensor zeigt nun im Gegensatz zu der bereits zum Einsatz kommenden Plaque-Diagnostik die frühere Fehlfaltung des Amyloid-beta an, das die spätere Plaque-Ablagerung verursacht. „Allerdings wird noch kontrovers diskutiert, ob diese Fehlfaltung ursächlich oder nur begleitend für Morbus Alzheimer ist“, so der Professor. „Für den Therapieansatz ist diese Frage sehr entscheidend, aber für die Diagnose unerheblich. Die Fehlfaltung zeigt den Beginn der Alzheimer-Erkrankung an.“

„Der genaue Zeitpunkt für die therapeutische Intervention wird in Zukunft noch wichtiger werden“, ist sich Léon Beyer, Erstautor und Doktorand im Team von Klaus Gerwert, sicher. „Der Erfolg weiterer Medikamentenstudien wird davon abhängen, dass die Studienteilnehmenden korrekt charakterisiert werden und bei Studieneintritt noch keine irreversiblen Schädigungen aufweisen.“
 

Sensor auch bei anderen neurodegenerativen Erkrankungen einsetzbar

Alzheimer ist nicht die einzige neurodegenerative Krankheit, bei der fehlgefaltete Proteine eine wichtige Rolle einnehmen. Auch bei Parkinson, Huntington oder Amyotropher Lateralsklerose (ALS)  ist dies der Fall. Der Immuno-Infrarotsensor ist in der Lage, auch andere fehlgefaltete Proteine, beispielsweise für TDP-43, das für ALS charakteristisch ist, zu detektieren. 

Es wird nicht die Konzentration eines bestimmen Proteins, sondern dessen Fehlfaltung detektiert. Das Ganze geschieht mithilfe von krankheitsspezifischen Antikörpern. „Diese Plattformtechnologie erlaubt insbesondere eine differenzielle, präzise, biomarkerbasierte Diagnose im frühen Stadium neurodegenerativer Erkrankungen, in der die bisherige symptombasierte Diagnose sehr schwierig und fehleranfällig ist“, so Gerwert.

Quellen: 
Informationsdienst Wissenschaft
Léon Beyer*, Hannah Stocker* et al.: „Amyloid-beta Misfolding and GFAP Predict Risk of Clinical Alzheimer’s Disease Diagnosis within 17 years“, Alzheimer’s & Dementia: The Journal of the Alzheimer’s Association, 19. Juli 2022. https://alz-journals.onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1002/alz.12745 
Hannah Stocker*, Léon Beyer* et al.: „Association of plasma biomarkers, P-tau181, glial fibrillary acidic protein, and neurofilament light, with intermediate and long-term clinical AD risk: Results from a prospective cohort followed over 17 years“, Alzheimer’s & Dementia: The Journal of the Alzheimer’s Association, 2. März 2022. https://alz-journals.onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/alz.12614 
*geteilte Erstautorenschaft
 

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