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Gefühlsblindheit

IM EMOTIONALEN DUNKEL

Sie empfinden weder Glück noch Trauer, kennen weder Eifersucht noch Hass, wissen nicht, was es heißt, über beide Ohren verliebt zu sein: jene Menschen, deren gefühlsmäßige Wahrnehmung gestört ist.

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Alexithymie nennt die Medizin diese Erkrankung. „Gefühlsblindheit“, die den Zugang zum eigenen emotionalen Erleben versperrt. Im medizinischen Nachschlagewerk „Pschyrembel“ steht zu lesen, Alexithymie ist das „Unvermögen, Gefühle hinreichend wahrzunehmen und zu beschreiben.“ Anders formuliert: Wer darunter leidet, kann seine eigenen Emotionen weder erkennen noch aussprechen. Denn einerlei ob Wut, Freude, Trauer, Glück, Hass, positives oder negatives Gefühl: Alexithyme können es weder einordnen noch benennen. Bis zu zehn Prozent der erwachsenen Bundesbürger sind von der Gefühlsblindheit betroffen.

Emotional und sozial isoliert Gefühlsblind zu sein, heißt keineswegs, keinerlei Gefühle zu haben – doch der Zugang dazu ist blockiert. Solcherart emotional isoliert ist es enorm schwer, sich in der Gesellschaft zurecht zu finden. Denn auf ihre Umwelt wirken die Betroffenen extrem kühl, nüchtern und distanziert. So kann Gefühlsblindheit nur allzu rasch ins gesellschaftliche Abseits manövrieren. Laut dem Neurowissenschaftler und Psychosomatiker Prof. Dr. Matthias Franz von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, der dieses Phänomen seit vielen Jahren eingehend erforscht, kann kaum eine andere psychologische Störung das menschliche Miteinander so sehr erschweren wie Alexithymie. Bei Willy Brandt, prominentem Betroffenen, hat das gefühlsmäßige „Fernsein“ so manche Zeitgenossen verprellt. „Es gab kein starkes Gefühl, dem ich mich rückhaltlos ausliefern konnte“ schrieb der berühmte Politiker in seiner Biografie. Sein Sohn Peter sagte über ihn, er sei emotional nicht da gewesen …

Alexithymie birgt einiges an Risiken Da für Alexithyme das Tor zu ihrer eigenen Gefühlswelt verschlossen ist, können sie auch die emotionalen Signale anderer Menschen nur schwer deuten. Das irritiert sie verständlicherweise und bewirkt dauerhaften psychosozialen Stress. Der kann krank machen: So weisen bis zu vierzig Prozent der Patienten mit chronischen Schmerzen alexithyme Charakteristika auf. Zudem ist das Risiko für Bluthochdruck, Reizdarmsyndrom, Schlafstörungen, Depressionen und Essstörungen bei gefühlsblinden Menschen erhöht. Auch bei anderen Erkrankungen wird ein Zusammenhang mit der Gefühlsblindheit vermutet und gegenwärtig untersucht.

Frühkindliche Verletzungen der Gefühle Wie Gefühlsblindheit entsteht, war jahrzehntelang ein Rätsel. Inzwischen kommen Neuropsychologen den Ursachen jedoch auf die Spur. Demnach ist Alexithymie keine angeborene Persönlichkeitsstörung, sondern wird vielmehr früh im Leben durch ein Trauma erworben. Viele Studien zeigten, dass der Zugang zur Gefühlswelt grundlegend durch die Beziehung zu Mutter und Vater geprägt wird. Ist das Verhältnis zu diesen zentralwichtigen Bezugspersonen in den kindlichen Entwicklungsjahren gestört, kann das weitreichende Folgen haben.

Wie unter anderem Alexithymie: Davon Betroffene mussten meist in der frühkindlichen Phase emotionale Defizite hinnehmen und haben sich daraufhin zurückgezogen. Neben einer traumatisierten Kindheit können auch schreckliche Erlebnisse im späteren Leben zu der Störung führen. Dann dient die Blockade der seelischen Empfindungsfähigkeit als Selbstschutz: Das „Ausschalten“ der Gefühlsebene hilft, die erlittene Traumatisierung besser zu ertragen.

Anatomische Indizien für das emotionale Dunkel Bildgebende Verfahren wie die Positronen-Emissions-Tomografie und Kernspintomografie zeigen, wie das Gehirn Emotionen wahrnimmt und verarbeitet. Das liefert auch wertvolle Informationen für die Erforschung der Alexithymie. So zeigen gefühlsblinde Menschen Funktionsveränderungen in Gehirnbereichen, die der zentralen Verarbeitung emotionaler Reize dienen: Besonderheiten, die auf eine beeinträchtigte Evaluation und Symbolisierungsfähigkeit entsprechender Informationen schließen lassen. Vieles spricht zudem dafür, dass bei Gefühlsblinden das limbische System nicht richtig mit dem präfrontalen Cortex vernetzt ist. Dies ergaben unter anderem Messungen der Hirndurchblutung, während der die Patienten an eine extrem emotionale Situation denken sollten, etwa den Tod eines nahestehenden Menschen.

Die Reaktionen im limbischen System, Zentrum der Gefühlsverarbeitung, waren minimal. Rege Aktivitäten zeigten sich dagegen im Stirnlappen. Diese Region des Gehirns ist in der Lage, die Weiterleitung emotionaler Reize zu unterbinden. Das könnte die neurobiologische Ursache für die Gefühlsblindheit sein. Demnach ist die Ursache eben nicht das Fehlen von Gefühlen, sondern deren Unterdrückung. Eine weitere anatomische Erklärung basiert darauf, dass bei Gefühlsblinden der Informationsfluss zwischen den beiden Gehirnhälften gestört zu sein scheint: An unterschiedlichen Stellen gespeicherte Informationen können offensichtlich nicht mehr zusammengesetzt werden.

Die Welt der Gefühle wieder öffnen Mit psychotherapeutischen Verfahren kann Gefühlsblinden geholfen werden. Im Vordergrund stehen dabei kognitive Verhaltenstherapie sowie Tanz- und Kunsttherapie, da sie das Selbsterleben fördern. Erfolg und Dauer der Behandlung hängen davon ab, wie schwer die Alexithymie ausgeprägt und vor allem wie offen der Patient für die Therapie ist. Denn er muss sich auf ein komplett neues Verständnis seiner Probleme einlassen. Das fällt umso schwerer, wenn Emotionen bislang unerkannt und ohne Bedeutung waren.

Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 09/2020 ab Seite 72.

Birgit Frohn, Diplombiologin

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