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ICH SPÜR’ DORT WAS, WO DU NICHTS SIEHST

In Anlehnung an einen bekannten Kinderreim mag die Überschrift ein wenig befremden, aber sie drückt sehr genau das aus, worum es geht: das Phänomen Phantomschmerz. Wenn ein Körperteil fehlt, kann er doch auch nicht mehr schmerzen. Weit gefehlt!

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Wir Menschen verfügen über ein hoch sensibles System an Sinneswahrnehmungsmöglichkeiten. Unser Gehirn informiert uns umgehend, sobald an irgendeiner Stelle unseres Körpers manipuliert wird. Wir spüren, wenn wir in einen Dorn treten oder uns irgendwo stoßen. Wir wissen sofort, dass uns der Fuß oder der Kopf wehtut. Was wir uns nur schwer vorstellen können, ist die Situation, dass der Fuß wehtut, obwohl er nach einer Amputation gar nicht mehr da ist. Ein stechender Schmerz, der eindeutig von der Fußsohle kommt, macht den Betroffenen das Leben schwer.

Statistik Wie Sie auf SL01/Suche „Wie man Phantomschmerzen behandelt“ erfahren, werden in Deutschland zirka 60 000 Amputationen pro Jahr durchgeführt. Bewusst erleben wir eigentlich nur bei den Paralympics, dass es viele Menschen gibt, die dieses schwere Schicksal ereilt hat. Wenn man dann noch bedenkt, dass etwa 70 Prozent der Amputationen im Zusammenhang mit Diabetes erfolgen, da der Blutzucker chronisch schlecht eingestellt war, erschreckt die hohe Zahl umso mehr.

Natürlich sind auch Unfälle oft der Grund für eine Amputation. Es erfolgen jedoch allein in Deutschland jährlich etwa 27 000 Fußamputationen aufgrund von Diabetes. Zu diesem Thema gibt SL02/„Was ist das“ ergänzende Informationen, die für Sie im Gespräch mit Diabetes-Kunden im Hinblick auf die Gefahr der Amputation mit ihren Folgen sicherlich von Interesse sind. Man geht davon aus, dass bei mindestens jedem zweiten Amputierten Phantomschmerzen auftauchen.

Wie tut was weh? Betroffene beschreiben die Schmerzen ganz unterschiedlich. Manche leiden unter stechenden, andere unter brennenden, krampfartigen oder schneidenden Schmerzen. Auch juckende oder kitzelnde Empfindungen gibt es. Ebenso ist die Dauer der Empfindungen unterschiedlich. Es kann sich um dauerhafte Beschwerden oder anfallsartige Episoden handeln, die immer wieder gleich oder unterschiedlich auftauchen.

Laut SL03/Suche „Phantomschmerz“/„Von Ursache bis Therapie“ betrifft Phantomschmerz meist die Patienten, denen ein Arm oder Bein amputiert wurde. Allerdings kann sich die Empfindung durchaus auch nach der Amputation anderer Körperteile wie Brüsten, Penis, Auge oder Zunge, ja sogar Zähnen einstellen.

Woher kommen die Schmerzen? Wirklich bekannt sind die Ursachen noch nicht. Wissenschaft und Medizin gehen mittlerweile davon aus, dass dieses Phänomen seinen Ursprung im Rückenmark und/oder im Gehirn hat. Lange Zeit vertraten Forscher die These, dass die am Stumpf verbliebenen Nervenenden für die Empfindungen verantwortlich sind, da bei Manipulation des Stumpfes entsprechende Beschwerden auftreten und offenbar weiterhin Signale an das Gehirn gesendet werden.

SL04/Suche „Phantomschmerz“/„Geisterhafte Pein“ beschreibt diese These so, dass das Gehirn glaubt, „der Input stamme weiterhin von der verlorenen Hand oder dem nicht mehr existierenden Bein. Und die grauen Zellen würden dann solche falschen Signale als Berührung und Schmerz fehlinterpretieren.“ Sie erfahren dort auch, dass bereits im 19. Jahrhundert der Begriff „Phantomglied“ von dem amerikanischen Chirurgen Silas Weir Mitchell, der amputierte Menschen untersuchte, geprägt wurde.

Von ihm stammt das Zitat „Tausende von Geistergliedmaßen suchen ebenso viele gute Soldaten heim und foltern sie zuweilen.“ Im Lauf der Forschungen gelangten die Wissenschaftler jedoch immer mehr zum Schluss, dass weniger die Nervensystemperipherie für die Phantomschmerzen zuständig ist als vielmehr das Gehirn. Die Forscher gehen mittlerweile davon aus, dass das Phänomen mit dem sensomotorischen Kortex, das ist der Teil der Gehirnrinde, der für das Fühlen verantwortlich ist, in Zusammenhang steht.

Stellen Sie sich diesen wie eine Art Landkarte des Körpers vor. Sämtliche Körperregionen sind dort entsprechend ihres sensorischen Inputs repräsentiert. Das heißt, je nach der Menge der empfundenen Botschaften an das Gehirn bleibt auch ein amputierter Körperteil weiterhin auf dieser Landkarte abgebildet.

SL05/Suche „Phantomschmerzen“ beschreibt dieses Bild sehr plastisch. Sie erfahren auch, dass es zu einer Umorganisation dieses als Tastregion bezeichneten Gehirnabschnitts kommt. Der Bereich der sensorischen Landkarte, der bis zur Amputation entsprechende Impulse von dem Körperteil bekam, bekommt nach dem Eingriff keine Impulse mehr.

Es ist jedoch nicht so, dass in diesem „Landkartenbereich“ nichts mehr passiert, denn die Nachbarregionen senden Impulse, und der Phantomschmerz wird als umso stärker empfunden, je größer diese Umorganisation ist. Waren vor der Amputation die Schmerzen im betroffenen Körperteil bereits sehr stark, dann wurden diese Informationen in einer Art zentralem Schmerzgedächtnis gespeichert.

Stumpf oder Phantom? Die AOK beschreibt unter SL06/Gesundheitsmagazin/Suche/„Chaos im Kopf“, dass man unterscheiden muss zwischen dem beschriebenen Phantomschmerz und den Schmerzen, die nach der Amputation zum regulären Heilungsprozess gehören und mit Schmerzmedikamenten behandelt werden. Im Verlauf können Blutergüsse, kleine Wunden oder Infektionen für diese Stumpfschmerzen verantwortlich sein.

Was kann man tun? Der Arzt klärt nach eingehender Untersuchung und Befragung ab, um welche Symptome es sich handelt und wird ein Schmerztagebuch empfehlen. Therapeutisch gibt es unterschiedliche Möglichkeiten. So kann mit Medikamenten zur Behandlung neuropathischer Schmerzen viel erreicht werden. Eine Prothese kann die Muskelfunktion fördern und sogar das Gehirn veranlassen, die Phantomschmerzen zu eliminieren.

Auch die Psyche spielt eine Rolle, so hilft es oft, im Vorstellungstraining den amputierten Körperteil zu visualisieren. Durch Stimulation des Stumpfes wird der Schmerz positiv beeinflusst, da das Gehirn zur Umorientierung veranlasst wird. Beim sogenannten Spiegeltraining bewegen Betroffene vor einem Spiegel die vorhandenen Gliedmaßen, wobei auch der entfernte Körperteil im Gehirn wahrgenommen wird.

Die Folge: Der Phantomschmerz wird reduziert. Und natürlich kommt es sehr auf die Einstellung an. Das Leben verändert sich, ganz klar, aber eine positive und hoffnungsfrohe Sicht auf die Zukunft kann eine enorme Verbesserung der Beschwerden bewirken.

Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 06/2022 ab Seite 50.

Wolfram Glatzel, freier Journalist
Ursula Tschorn, Apothekerin

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