© bowie15 / iStock / Getty Images Plus
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Kolumne | Holger Schulze

HAUPTSACHE WAS NEUES

Zu erkennen, was neu ist, kann für einen Organismus überlebenswichtig, zumindest aber interessant sein. Im Gehirn gibt es hierfür spezialisierte Areale.

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Kennen Sie das auch? Die immer wiederkehrenden Werbespots, in denen das immer gleiche Waschmittel als irgendwie doch „neu“ angepriesen wird? Mit neuem Duft oder neuer Rezeptur, die noch weißer als weiß macht? Dass etwas Neues besondere Aufmerksamkeit und Neugier auf sich zieht, haben Werbefachleute früh erkannt. Dass die Strategie tatsächlich funktioniert, beruht auf einer evolutiv sehr alten Eigenschaft von Gehirnen, der Fähigkeit, Neues von Bekanntem zu unterscheiden und besonders darauf zu reagieren (engl. „Novelty Detection“).

Dabei erscheint es sehr einleuchtend, dass diese Fähigkeit überlebenswichtig für einen Organismus sein kann. Etwa wenn eine neue Frucht entdeckt wird, könnte diese nahrhaft oder auch giftig sein. Es lohnt sich daher, die Aufmerksamkeit auf das neue Objekt zu lenken und die Bewertungssysteme des Gehirns zu aktivieren, da die Kenntnis über die Genießbarkeit der Frucht Entscheidungen in der Zukunft ermöglicht, ob sie verzehrt oder besser gemieden werden sollte.

Eine zentrale Rolle bei dieser Novelty Detection spielt dabei bei Säugetieren der präfrontale Cortex (PFC), der, wie Sie inzwischen sicher wissen, für eine ganze Reihe von kognitiven Funktionen zuständig ist. Wird ein Versuchstier oder auch eine Testperson mit einer neuen Situation oder einem neuen Objekt konfrontiert, so steigt die Aktivität in dieser Hirnregion stark an. Die Aufmerksamkeit wird entsprechend ausgerichtet und das Neue kann analysiert werden.

Tritt die Situation erneut auf, sinkt die Aktivität im PFC bis sie sich schließlich bei der Präsentation von Altbekanntem gar nicht mehr verändert. Deshalb funktioniert auch ein Werbeclip, den Sie schon hundertmal gesehen haben, irgendwann nicht mehr.

Etwas Neues muss her, um wieder Interesse zu wecken. Diese besondere Aufmerksamkeit, die wir allem Neuen widmen, kann aber auch dazu führen, neue Dinge zu stark oder bekannte zu wenig zu beachten.

Denken Sie an den Krieg in Syrien, der nur noch eine Schlagzeile wert ist, wenn sich etwas an der Situation verändert, etwa durch den Einmarsch der Türken. Dass auch davor täglich Menschen starben, war keine Meldung mehr wert. Umgekehrt reagieren viele Menschen extrem aufgebracht, wird der erste Unfall mit den neuen E-Scootern gemeldet. Wir diskutieren dann, ob wir es verantworten können, diese neuen Verkehrsmittel auf die Straße zu lassen. Die 432 in Deutschland tödlich verunglückten Radfahrer sind da nur eine Randnotiz.

»Neues aktiviert das Gehirn besonders stark.«

Und schließlich reagieren viele Menschen derzeit geradezu panisch mit Hamsterkäufen und die Börse bricht ein, aus Angst vor dem neuen Coronavirus. Viele Grippestämme verursachen zwar eine deutlich höhere Sterblichkeitsrate mit schon 265 Todesfällen durch die aktuelle Grippewelle dieser Saison, aber das kennen wir ja schon lange, da wird keine Schule mehr geschlossen. Bei aller Bedeutung des Neuigkeitswerts an sich sollten wir dennoch hin und wieder versuchen, die Dinge objektiv zu betrachten, ohne uns von unserem PFC irreführen zu lassen, finden Sie nicht auch?

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 04/2020 auf Seite 12.

Zur Person

Prof. Dr. Schulze, Hirnforscher
Holger.Schulze@uk-erlangen.de

Prof. Dr. Schulze ist Leiter des Forschungslabors der HNO-Klinik der Universität Erlangen-Nürnberg sowie auswärtiges wissenschaftliches Mitglied des Leibniz-Instituts für Neurobiologie in Magdeburg. Seine Untersuchungen zielen auf ein Verständnis der Neurobiologie des Lernens und Hörens.
www.schulze-holger.de 

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