© Die PTA in der Apotheke
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Interview

HALT FÜR DIE SEELE

Wenn ein Elternteil in eine seelische Krise gerät oder psychisch erkrankt ist, leisten alle Familienmitglieder viel, um den Alltag zu bewältigen. Welche besondere Unterstützung sie benötigen, erklärt Diplom-Psychologin Maike Struve vom Diakonischen Werk Hamburg.

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Nehmen psychische Erkrankungen in den letzten Jahren zu?
Ja, die Ausgaben dafür sind rasant gestiegen. Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes stiegen die Kosten in den Jahren 2002 bis 2008 um 5,3 auf knapp 28,7 Milliarden Euro. Der Anstieg war damit höher als bei allen anderen Krankheiten.

Welche treten bei Erwachsenen am häufigsten auf?
Allein bei Depressionen erhöhten sich die Kosten für die Krankenkassen um 33 Prozent. Auch in der Beratungsstelle macht sich das bemerkbar. Viele Mütter oder Väter, die bei uns Hilfe suchen, leiden unter einer Depression oder einer Borderlinestörung. Oft verbirgt sich hinter einer Depression eine Borderlineerkrankung, aber es scheint für die Betroffenen leichter mit der „gesellschaftsfähigeren” Diagnose der Depression nach außen zu treten. Eltern mit Persönlichkeitsstörungen finden den Weg zu uns eher selten selbst. Hier sind es die Angehörigen, die Beratung suchen und oft in Folge einer Trennung die Gestaltung des Umgangs mit den gemeinsamen Kinder zum Problem wird.

Welche Auswirkungen hat es auf Kinder, deren Eltern unter einer psychischen Erkrankung leiden?
Erfahrungsgemäß sind die Kinder parentifiziert, das heißt, es hat ein Rollentausch zwischen Eltern und Kind stattgefunden. Das Kind versorgt den betroffenen Elternteil unter Umständen nicht nur im Sinne alltagspraktischer Handlungen, wie zum Beispiel Einkaufen und Wäsche waschen, sondern auch auf emotionaler Ebene.

Betroffene Kinder sind oft in der Schule eher unauffällig und angepasst, sozial sehr kompetent und beliebt, weil sie ein großes Einfühlvermögen für andere an den Tag legen. Sie tragen zu viel Verantwortung und sind eher ernst. Sie können sich möglicherweise nicht auf ihre Lernaufgaben in der Schule kümmern, weil ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Kontakte zu Mitschülern und Lehrern geht, um sich gut orientieren zu können und weil sie sich um die zu Hause „gelassenen” Elternteile sorgen.

VITA
Die Kinder- und Jugendlichentherapeutin Maike Struve, Jahrgang 1965, studierte von 1995 bis 2002 Psychologie in Hamburg. 1999 bis 2009 betreute sie ambulant Familien mit psychisch kranken Eltern im Rahmen der Eingliederungshilfe , seit 2005 absolviert sie eine berufsbegleitende Ausbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin für Erwachsene (Psychodynamische Psychotherapie). Seit 2010 ist sie Leiterin des Projektes SeelenHalt – Hilfen für Familien psychisch kranker Eltern – des Diakonie-Hilfswerkes Hamburg im Zentrum für Beratung, Seelsorge und Supervision.

Welche Unterstützung erhalten die betroffenen Kinder im Normalfall?
Das ist sehr unterschiedlich. Die Lebenssituationen können sehr verschieden und damit auch unterschiedlich unterstützend sein. Wenn betroffene Kinder in einer vollständigen Familie mit beiden Eltern, von denen einer krank ist und sich behandeln lässt, und vielleicht auch noch Geschwistern auswächst, wenn es Freizeitaktivitäten der Kinder gibt und noch andere Erwachsene, denen sich die Kinder in ihrem Kummer um Vater oder Mutter anvertrauen können, dann ist das Unterstützungssystem groß und in gewisser Weise ausgleichend.

Leben aber nur erkrankte Mutter und Kind ohne weitere soziale Kontakte zusammen, ist das Kind in viel stärkerem Maße der Erkrankung der Mutter beziehungsweise einer überfordernden Beziehung im Sinne eines Rollentausches der beiden (Kind versorgt die Mutter und nicht umgekehrt!) ausgeliefert.

Welche Ziele verfolgen Sie mit dem Projekt SeelenHalt?
Wir wollen möglichst frühzeitig Familien erreichen, um sie in ihrer besonders belastenden Lebenssituation zu unterstützen und einer möglichen Chronifizierung der Schwierigkeiten vorzubeugen. In einem Erstgespräch klären wir das genaue Anliegen der Familien und suchen nach einer passgenauen Hilfe, die nicht unbedingt von uns geleistet, sondern vielleicht nur von uns angebahnt werden kann.

Oft kommen Familien zu uns, die auf keinen Fall in Kontakt mit dem Jugendamt kommen möchten, weil sie fürchten, wegen ihrer psychischen Erkrankung das Sorgerecht für ihre Kinder zu verlieren. Manchmal lassen sich diese Vorbehalte auflösen und wir begleiten die Familien zum Jugendamt, um die ihnen zustehenden Hilfen einzufordern. Manchmal beraten wir die Familien, weil sie sich sonst nicht trauen, behördliche Hilfen in Anspruch zu nehmen. Diese Beratungsprozesse dauern dann erfahrungsgemäß lange.

»In Sorge um ihre Eltern übernehmen Kinder und Jugendliche oft viel Verantwortung, fast wie Erwachsene.«

Wie wird es von Eltern und Kindern angenommen, wie erfahren diese überhaupt davon? Das Projekt SeelenHalt bietet Sprechstunden in psychiatrischen Kliniken an für Patienten, die auch Eltern sind. Dort erfahren sie im Rahmen unverbindlicher Informationsveranstaltungen vom Beratungsangebot, lernen Kinderliteratur zum Thema kennen und können Fragen stellen, die sie beschäftigen.

Es ist auch möglich, im Anschluss an die Information eine Einzelberatung zu bekommen oder Termine für einen späteren Zeitpunkt nach der stationären Behandlung in der Beratungsstelle zu vereinbaren. Das Fachamt für Jugend- und Familienhilfe vermittelt Familien zu uns und Schulen und Kindergärten wenden sich an uns zur Fachberatung oder um einen Kontakt zu betroffenen Familien zu vermitteln. Helferinnen der ambulanten Hilfen sprechen uns oft zusammen mit betroffenen Familienmitgliedern an. Durch Öffentlichkeitsarbeit und speziell unseren Internetauftritt erfahren die Familien ebenfalls von uns.

Welche Angebote stehen den Kindern zur Verfügung?
Kindergruppen, Familien- und Einzelberatung, aber nicht alle Angebote richten sich direkt an die Kinder, sondern an deren Eltern, die in ihrer Erziehungsfähigkeit gestärkt werden sollen und so indirekt über die Eltern die Kinder erreicht werden. Wir besuchen die Familien nicht zu Hause.

Wie eng arbeiten Sie mit den beteiligten Institutionen wie Klinik, Krankenkasse, Jugendamt usw. zusammen?
Wir kooperieren eng mit vier verschiedenen psychiatrischen Kliniken in unterschiedlichen Regionen der Stadt und bieten regelmäßig ein Mal im Monat eine kombinierte Informationsveranstaltung und Sprechstunde an. Wir nehmen an Hilfeplangesprächen von Familien, die Unterstützungsmaßnahmen der Jugendhilfe in Anspruch nehmen, im Jugendamt teil, um dort eine Art Brücken- oder Dolmetscherfunktion zu übernehmen und geeignete Hilfen beziehungsweise Aufgabenverteilungen abzusprechen. Eine Zusammenarbeit und möglicherweise auch Finanzierung spezieller Angebote unserer Beratung durch die Krankenkasse würden wir uns wünschen, aber bisherige Nachfragen waren nicht erfolgreich.

Wie viele Teilnehmer haben Sie bisher betreut?
Im Jahr 2010 haben wir 94 Familien betreut, im Jahr 2011 waren es 98 Familien.

 Gibt es bundesweit ähnliche Projekte?
Ja, die gibt es. In den letzten zehn Jahren ist die Anzahl der Projekte sehr gewachsen. Sie haben sich in einer Bundesarbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen, um sich fachlich über ihre Erfahrungen auszutauschen, aber auch speziell zum Thema der Finanzierung solcher Projekte, die oft nur durch viel Engagement Einzelner entstehen und aufrecht erhalten werden, ohne dass es eine verlässliche Finanzierung aus öffentlichen Mitteln oder der Krankenkasse gibt. Dazu gibt es die Internetseite www.BAG-kipe.de.

Wo ist der Unterschied zwischen Ihrem Angebot und einer Psychotherapie für die Kinder? Letzteres ist eine Heilbehandlung, induziert, wenn eine Störung, das heißt ein krankheitswertiges Verhalten des Kindes vorliegt. Unsere Beratung hat zum Ziel eine mögliche Erkrankung der Kinder zu verhindern und die Lebensumstände der gesamten Familie dahingehend zu stärken, dass einzelne Familienmitglieder sich möglichst optimal entwickeln können.

INFORMATION
SeelenHalt bietet Hilfe für alle Familienmitglieder durch entlastende Gespräche, professionelle Beratung und Vermittlung weiterer Hilfsangebote. Die Beratung ist für die Familien unverbindlich und kostenfrei, die Berater/-innen sind zur Verschwiegenheit verpflichtet. Das Projekt wird in Kooperation mit dem Universitäts-Klinikum Eppendorf wissenschaftlich evaluiert. Kontakt: Diakonie-Hilfswerk Hamburg · Projekt SeelenHalt Königstraße 54 · 22767 Hamburg Maike Struve/Johanna Kutzke · Telefon 0 40/306 20-245 E-Mail: SeelenHalt@diakonie-hamburg.de · Internet: www.diakonie-hamburg.de

Das kann bedeuten, dass wir Vater oder Mutter bei der Suche nach einer angemessenen Hilfe, beispielsweise einer ambulanten Psychotherapie, unterstützen und den Zeitraum bis zur Therapie mit einer Beratung bei uns überbrücken. Falls wir den Eindruck haben sollten, dass eine Beratung des Kindes und/oder der Eltern bei uns nicht ausreicht und das Kind selbst schon ernstzunehmende Symptome zeigt, verweisen wir die Familie an niedergelassene Kinder und Jugendlichenpsychotherapeuten oder an eine Kinderpsychiatrische Praxis.

Wie lange begleiten Sie die Kinder – solange wie die Behandlung der Eltern/des Elternteils dauert oder auch darüber hinaus?
Die Beratungen bei SeelenHalt dauern je nach Anliegen der Familie unterschiedlich lang. Etwa ein Drittel der Klienten kommen nur ein bis zwei Mal und klären klar umrissene Fragen wie zum Beispiel „Wie bespreche ich meine Erkrankung mit meinem Kind, ohne es zu sehr zu belasten?” oder „Welche konkreten Hilfen im Alltag, in Bezug auf psychiatrische oder psychotherapeutische, gibt es für unsere Familie?”

Ein weiteres Drittel der Familien kommt mehrfach im Sinne einer Krisenintervention oder bis eine vertrauensvolle Beziehung entstanden ist, um sich beispielsweise einzugestehen, tatsächlich psychisch erkrankt zu sein, die Angst vorm Jugendamt zu verlieren und rechtliche Ansprüche auf Hilfe dort anzumelden. Das letzte Drittel besteht aus Klienten, die über einen langen Zeitraum regelmäßig oder sporadisch kommen und auch die unterschiedlichen Angebote versetzt wahrnehmen.

Oft geben Mütter oder Väter leichter ihre Kinder zu uns in die Kindergruppe, wenn sie vorher schon einige Zeit von uns einzeln und mit den Kindern zusammen beraten wurden. Sie haben dann mehr Vertrauen zu uns und können die Verbindlichkeit der regelmäßigen Teilnahme einhalten.

Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 07/12 ab Seite 60.

Das Interview führte Dr. Petra Kreuter

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