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Wäre ein schmerzfreies Leben wirklich besser?

FLUCH UND SEGEN DES SCHMERZES

Schmerzen haben wichtige Schutzfunktionen für unseren Körper, zeigen Verletzungen an und ermahnen zur Schonung und Vorsicht. Ein Leben ohne Schmerzwahrnehmung ist nicht denkbar – und doch wird es durch den Schmerz oft zur Qual.

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Kennen Sie das auch? Beim Brotschneiden rutscht Ihnen das Messer ab und Sie fügen sich eine tiefe Schnittwunde zu. Im ersten Moment spüren Sie nichts, doch schon kurz darauf meldet sich die Verletzung mit einem brennenden Schmerz. Wenn die Wunde sich entzündet, kann es sein, dass dieses Missgeschick Sie über mehrere Tage behindert. Und wenn es ganz schlimm kommt und womöglich Nervenbahnen durchtrennt wurden, könnten sogar chronische Schmerzen entstehen. Warum hat uns die Evolution mit dieser so unangenehmen bis quälenden Empfindung ausgestattet?

Welch wichtige Schutzfunktion Schmerz ausübt, zeigt sich am eindruckvollsten an einer extrem seltenen Erbkrankheit, bei der ein Rezeptor für den Nervenwachstumsfaktor defekt ist, der sogenannten „hereditären sensorischen und autonomen Neuropathie Typ IV“. Durch den Defekt werden weniger bis keine für die Schmerzübermittlung zuständigen A-delta und C-Nervenfasern ausgebildet und die Patienten sind unfähig, Schmerz zu empfinden, wodurch sie sich häufig verletzen und meist früh versterben. Im Gesunden ist die Schmerzentstehung ein außerordentlich komplexer Prozeß, an dem neben dem Nervensystem auch Gefäß- und Immunsystem beteiligt sind.

Der eigentliche Schmerzreiz wird dabei von freien Nervenendigungen registriert, die in hoher Dichte in der Haut vorkommen, aber auch in allen anderen Organen außer dem Hirn und der Leber vorhanden sind. Verschiedene Rezeptoren reagieren dabei auf thermische, chemische oder mechanische Reize, wie sie etwa bei einer Verletzung auftreten. Diese löst aber nicht nur direkten Schmerz aus, sondern bewirkt auch, dass von Endothel- und Immunzellen eine ganze Reihe von Botenstoffen freigesetzt wird.

In diesem Zusammenhang besonders wichtig sind dabei die Entzündungsmediatoren Bradykinin, Histamin, Serotonin und verschiedene Prostaglandine. Diese führen in der Wunde zu Gefäßerweiterungen und lokaler Ödembildung, sodass Abwehrzellen leichter zum geschädigten Gewebe vordringen können. Gleichzeitig wirken einige dieser Substanzen aber auch sensibilisierend auf die Schmerzrezeptoren selber zurück, wodurch die Schmerzschwelle sinkt und der Schmerz sich auf größere Bereiche ausweitet. Im Verhalten des Patienten führt dies zur verstärkten Schonung des betroffenen Körperteils und fördert damit den Heilungsprozeß.

Problematisch wird es erst, wenn zentrale Bereiche der Schmerzverarbeitung betroffen sind, etwa bei Schädigung der Nervenbahnen, zum Beispiel nach Amputation oder Verletzungen des Rückenmarks, was zu chronischem Schmerzempfinden wie etwa Phantomschmerz führen kann. Hier hilft dann auch keine Heilung der primären Verletzung mehr: Da die Schmerzursache die gestörte zentrale Schmerverarbeitung ist, müssen geeignete Therapien auch zentral ansetzen, mit dem Ziel einer Wiederherstellung der normalen zentralnervösen Verarbeitung. Doch ich hoffe, aus eigener Erfahrung kennen Sie so etwas nicht …

ZUR PERSON
Prof. Dr. Holger Schulze
Hirnforscher
Holger.Schulze@uk-erlangen.de

Prof. Dr. Schulze ist Leiter des Forschungslabors der HNO-Klinik der Universität Erlangen-Nürnberg sowie auswärtiges wissenschaftliches Mitglied des Leibniz-Instituts für Neurobiologie in Magdeburg. Seine Untersuchungen zielen auf ein Verständnis der Neurobiologie des Lernens und Hörens.
www.schulze-holger.de

Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 03/11 auf Seite 12.

Holger Schulze

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