Schreiendes Mädchen auf Wiese.© Janie Airey / iStock / Getty Images

Aktionstage

EINEN TIC ANDERS

Tic-Störungen und das Tourette-Syndrom zählen zu den neuro-psychiatrischen Erkrankungen. Aufgrund der sozialen Auffälligkeiten entsteht bei Betroffenen häufig ein starker Leidensdruck. Hier kann Aufklärung helfen.

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Der European Tourette Syndrome Awareness Day wurde 2013 von der Europäischen Gesellschaft für die Erforschung des Tourette Syndroms (ESSTS) ins Leben gerufen. Der Aktionstag findet am 7. Juni statt, am Geburtstag der britischen Professorin Mary Robertson, um ihren Einsatz rund um die Erkrankung zu ehren. An diesem Tag soll die Öffentlichkeit über die Erkrankung informiert werden, um das Bewusstsein und das Verständnis für das Tourette-Syndrom zu verbessern – für mehr Aufmerksamkeit und Toleranz.

Außerdem soll die Bedeutung einer frühzeitigen Diagnostik und Therapie herausgestellt werden. In Deutschland haben etwa 800 000 Menschen das Tourette-Syndrom, eine Tic-Störung, bei der es zu unkontrollierten Aktivitäten kommen kann. Hierzu zählen Blinzeln, Zucken, unwillkürliche Bewegungen, Naserümpfen, Grimassenschneiden, Nachahmen von Tiergeräuschen oder -handlungen, Ausstoßen von Lauten oder Wortäußerungen. Aufgrund dieser Auffälligkeiten treffen Betroffene häufig auf Stigmatisierungen im sozialen Leben, da die Tics von Außenstehenden oft nicht eingeordnet werden können und die Menschen daher auffällig erscheinen.

Erschwerend kommt hinzu, dass die vokalen Tics oft aus dem Ausrufen obszöner oder aggressiver Laute bestehen und in unangemessenen Situationen auftreten können, etwa während eines Theaterbesuchs, beim Einkaufsbummel, in der Bahn oder beim Spaziergang. Die Tics sind in der Öffentlichkeit besonders problematisch, weil sie auf andere absonderlich und teilweise sogar provozierend wirken. Eine häufige Begleiterscheinung des Tourette-Syndroms ist demnach ein hoher psychischer Leidensdruck, der durch Mobbing und Hänseleien entsteht. Fordern Außenstehende von Betroffenen, die Tics zu unterlassen, verstärken sich diese in der Regel noch.

Motorische und vokale Tics Beim Gilles-de-la-Tourette-Syndrom (kurz: Tourette-Syndrom) handelt es sich um eine neuropsychiatrische Störung. Sie beginnt im Kindesalter und verläuft chronisch. Den Tics geht in der Regel ein als unangenehm empfundenes Vorgefühl voraus, durch welches Betroffene erkennen, dass es zu einem bestimmten Tic kommen wird. Im Anschluss klingt das Vorgefühl wieder ab.

Man differenziert zwischen einfachen motorischen Tics, also kurzen, ruckartigen Bewegungen (wie Augenblinzeln, Grimassieren, Stirnrunzeln) oder einfachen vokalen Tics (Schmatzen, Grunzen, Räuspern, Schniefen oder Zungenschnalzen). Zu den komplexen motorischen Tics zählen die Kopropraxie (Ausführung obszöner Gesten), die Echopraxie (Imitation der Bewegungen anderer Personen), die Palipraxie (Wiederholung eigener Bewegungen), das Berühren von anderen Menschen oder Gegenständen sowie Springen, Klatschen oder autoaggressives Verhalten.

Die Koprolalie (Ausstoßen obszöner Worte), die Palilalie (Wiederholung der selbst gesprochenen Worte), die Echolalie (Wiederholung von gehörten Worten) sowie das Sprechen von zusammenhanglosen Sätzen oder allgemein das Ausrufen von sozial inadäquaten Worten sind den komplexen vokalen Tics zuzuordnen.

Multifaktorielle Auslöser Ursache für die Tic-Störungen sind sowohl genetische als auch Umweltfaktoren. Familien- und molekulargenetische Untersuchungen haben gezeigt, dass die genetische Komponente bei der Entstehung von Tics erheblich ist. So haben Angehörige ersten Grades ein Risiko von 5 bis 15 Prozent, selbst an der Tic-Störung zu erkranken.

Neben einer medikamentösen Therapie helfen Entspannungs- techniken und Verhaltenstherapie.

Historie Erstmals wurde die Störung im Jahr 1825 von dem französischen Arzt und Pädagogen Itard (1774-1838) beschrieben. Ihm fiel das Verhalten der Marquise de Dampierre auf, die im Alter von sieben Jahren ungewöhnliche Laute äußerte und auffällige Bewegungen zeigte. 1885 publizierte der Neurologe Georges Gilles de la Tourette eine Studie, in welcher er über die Erkrankung von Dampierre und einigen weiteren Patienten aufklärte. Er bezeichnete die Nervenerkrankung als „Maledie des Tics“. Dr. Tourette ist es zu verdanken, dass das Leiden weltweit bekannt wurde, nach ihm wurde die Krankheit benannt.

Diagnostik Die Diagnose des Tourette-Syndroms sollte von einem erfahrenen Kinder- und Jugendpsychiater gestellt werden. Die ersten Anzeichen der Erkrankung zeigen sich in der Regel im Gesicht durch motorische Tics. Für die Diagnose müssen die Symptome bereits über einen Zeitraum von einem Jahr bestehen und vor dem 18. Lebensjahr beginnen. Es existieren keine Blutuntersuchungen oder neurologischen beziehungsweise psychologischen Testverfahren, mit denen die Ermittlung der Erkrankung möglich ist, sodass sich die Diagnostik auf die Einordnung der Symptomatik beschränkt.

Weitere Erkrankungen, wie etwa Epilepsie, sind vom behandelnden Arzt mit Hilfe eines Elektroenzephalogramms auszuschließen. Um den Schweregrad der Tic-Störung zu bestimmen, gibt es allerdings Schätzskalen, die als Hilfestellung bei der Diagnostik dienen. Im ICD sind Tic-Störungen unter F95 gelistet und werden in verschiedenen Unterkategorien (zum Beispiel vorübergehende oder chronische Tic-Störungen) unterteilt.

Hilfe bei Tourette Der erste und wichtigste Teil der Therapie ist die Psychoedukation, also die Aufklärung über die Erkrankung, denn diese stellt für Betroffene bereits eine deutliche Entlastung dar. Sind die Tics stark ausgeprägt, ist eine medikamentöse Behandlung möglich, mit der allerdings nicht die Ursache der Erkrankung erfasst wird. Mittel der Wahl sind dann Neuroleptika (Dopaminantagonisten), wie etwa die Wirkstoffe Tiaprid, Pimozid, Risperidon, Sulpirid, Olanzapin oder Haloperidol.

Letztere Substanz wird allerdings aufgrund des ungünstigen Nebenwirkungsprofil selten eingesetzt. Generell ist zu beachten, dass die Neuroleptika bei den einzelnen Patienten nicht gleich gut wirken und die Nebenwirkungen unterschiedlich ausgeprägt sein können. Gelegentlich werden auch die Wirkstoffe Clonidin und Guanfacin eingesetzt, die das adrenerge System beeinflussen. Da die medikamentöse Therapie oft unbefriedigend ausfällt, gibt es weitere Ansätze zur Behandlung der Tic-Störung und zwar mit GABAergen Substanzen, Botulinumtoxin, Opiatantagonisten, Marihuana oder Dopaminagonisten.

In einigen Fällen sind Entspannungstechniken oder verhaltenstherapeutische Ansätze sinnvoll. Als effektiv hat sich das sogenannte Habit Reversal Training erwiesen, bei dem die Selbstwahrnehmung geschult wird und zwar mit dem Ziel, dass Betroffene das automatisierte Verhalten frühzeitig erkennen und durch alternative Handlungen ersetzen. Die Teilnahme an Selbsthilfegruppen tut Patienten oft gut, da sie sich hier mit Gleichgesinnten austauschen können und die Bewältigung der Erkrankung dadurch oft leichter fällt.

Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 06/2022 ab Seite 98.

Martina Görz, PTA, M.Sc. Psychologie, Fachjournalistin

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