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Bücher, von denen man spricht

DIE ATEMBERAUBENDE WELT DER LUNGE

So ist es, wenn ein Facharzt sich unseren Körper mal genauer anschaut, von außen sozusagen. Das Herz: unansehnlich. Die Nase: hat es auch nicht leicht. Die Lunge: das schönste und wichtigste Organ der Welt.

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Man kann Liebesromane über jedes beliebige Sujet schreiben, die meisten tun es über Menschen. Jene, deren Story es bis zum ZDF-Herzkino schafft, verdienen sogar richtig gut. Ob ihm das beschieden ist, dem Dr. Kai-Michael Beeh, der „eine Sammlung von Kurzgeschichten über die Lunge“ (Zitat) verfasst hat, ist ihm zu gönnen, aber zweifelhaft. Auf jeden Fall hat man nur sehr selten einen Beinahe-Liebesroman mit einer guten Prise Humor, der gepaart ist mit viel medizinischem Fachwissen. Für Beeh ist die Lunge das Tollste, obwohl sie ja eher wie ein Sack erscheint und sie keiner zu Gesicht bekommt, es sei denn, ihr Besitzer ist tot.

Das Wunder der Atmung Wir tun es 20 000 Mal am Tag und merken es nur, wenn wir husten müssen, eine Erkältung haben oder einen steilen Berg hinaufjoggen: atmen. Die Luft strömt durch die Nase in die Bronchien und dann in die Atemwegsverästelungen, die sich nicht weniger als 23-mal teilen, bis sie schließlich in den Alveolen, den Lungenbläschen, enden. Hier, an der Grenzfläche der vielen kleinen Blasen, findet der Gasaustausch statt: Der Sauerstoff aus der Luft geht ins Blut über. Das ist schon irgendwie ein Wunder. Doch weil sie so geräuschlos arbeitet, wenig Ermüdungserscheinungen zeigt und man sie endlos quälen kann, bevor sie sich allenfalls durch Kurzatmigkeit ein wenig meldet, ist Dr. Beeh der Meinung, dass unser größtes Organ unbedingt PR verdient hat.

Millionen von Menschen suchen jedes Jahr wegen Atemwegsbeschwerden den Arzt auf. Die Lungenentzündung ist weltweit die am häufigsten zum Tode führende Infektionskrankheit, das Bronchialasthma die häufigste chronische Erkrankung im Kindesalter, Lungenkrebs die häufigste männliche Todesart. COPD ist schwer im Kommen und über die Feinstaubbelastung wollen wir gar nicht reden – all das zusammengerechnet hat sich der Wissenschaftler hingesetzt und nach gut 200 Seiten ein paar Tipps zusammengestellt, wie wir unser Atemorgan möglichst lange gesund erhalten.

Die Lunge und das Mikrobiom Und, ach, es gibt so vieles, was ein Mensch außerhalb medizinischer Fachkreise gar nicht weiß. Zum Beispiel, dass auch die Lunge über ein Mikrobiom verfügt, nicht nur der Darm, von dem alle Welt redet. Es ist zwar vergleichsweise klein, denn in der Lunge vermehren sich sonst auch böse Keime aufgrund der warmen, gut durchbluteten Abgeschiedenheit prächtig, aber es ist wichtig, dass es vom Organismus fachgerecht zusammengestellt wird. So erzählt Beeh die Geschichte der Karelen, eines Volksstammes, der aufgrund seiner geografischen Lage nach dem zweiten Weltkrieg in finnische und russische Karelen aufgeteilt wurde. Epidemiologen stießen zu ihrer Verblüffung auf die Tatsache, dass jedes dritte finnische Karelen-Kind an Heuschnupfen, Asthma und anderen Allergien litt, während es auf der russischen Seite höchstens jedes 50. war.

Des Rätsels Lösung: Die Finnen assimilierten sich beinahe vollständig und nahmen einen westlich geprägten Lebensstil an. Der Alltag der russischen Karelen entspricht hingegen noch heute beinahe den Bedingungen des frühen letzten Jahrhunderts und besteht aus dem Zusammenleben mit vielen Tieren und einer Menge Familienmitglieder, flankiert von spartanischen Lebensumständen. Sie verfügen über Lactococcus und Acinetobacter; die beiden Bakterienarten waren in ihrem Mikrobiom zahlenmäßig stark vertreten, bei den finnischen Kindern jedoch kaum zu finden. Allzuviel Hygiene ist also nicht so gut fürs Immunsystem, folgert der Autor, denn wird es im Kindesalter nicht regelmäßig trainiert, richtet es sich gegen sich selbst und fördert die Entstehung von Allergien.

Die Lunge und die Musik Manchmal tut sie rätselhafte Dinge, die Lunge. Gähnen zum Beispiel: Das ist ein Dehnreflex: Atmen wir lange sehr flach (beim Lesen, Computergucken, Fernsehen), lösen die gelangweilten Dehnungsfühler einen Reflex aus – und die Lunge betreibt eine Art Stoßlüftung. Oder haben Sie sich auch schon einmal gefragt, warum man in klassischen Konzerten, wenn weihevolle Stille zu herrschen hat, so oft husten muss? (Das passiert angeblich bei Fußballspielen nicht, obwohl, da würde man es gar nicht hören) Und zwar so, dass man es willentlich nicht unterdrücken kann? Beeh meint: Klassisches Konzert und Gottesdienst – die zweite Hustenhochburg – wirken auf viele Besucher nicht gerade tiefenentspannend. Die Luft ist trocken und kühl, die Stimmen gedämpft, Flüstern ist angesagt und immer schön flach atmen. Kein Wunder, dass es kitzelt im Gebälk – und dann irgendwann raus muss. Falls man Wert auf hustenfreie Konzerte legt, meint Beeh, solle man es so machen wie bei den „Proms“ in der Londoner Royal Albert Hall: „Dort hustet niemand, denn dort herrscht Jubelfreiheit!“

Die Lunge und Roland Kaiser Bronchialasthma, die immer häufiger auftretende COPD, Lungenentzündungen – längst sind das Volkskrankheiten, auf die es unser Augenmerk zu richten gilt: Sie „schreien uns nicht in Fußgängerzonen von Plakaten an, wie Herzinfarkt, Diabetes, Leberentzündung oder Erektionsschwäche“, und deshalb brauchen sie eine Lobby. Beeh warnt vor zunehmenden Antibiotikaresistenzen, setzt sich vehement für eine flächendeckende Ausstattung der Hausärzte mit Lungenfunktionsmessgeräten ein und schimpft seine eigene Fachschaft, die ein bisschen hinterher ist: „Noch in den Neunzigerjahren, als schlipstragende Hightech-Kardiologen bereits jeden Passanten, der nicht bei drei auf einen Baum flüchten konnte, mit einem Herzkatheter beglückten, während gleichzeitig Blut- und Krebsspezialisten in so atemberaubenden Tempo die Ära der molekularen Medizin einleiten, dass sie ihr täglich wechselndes Neusprech selber nicht mehr verstehen, schlurft die Pneumologie noch behäbig mit dem Vokabular von Kaverne, Verkäsung, Spitzenherd und Heilstätte über die immer kleiner werdenden Krankenstationen.“

Viel zu häufig wird Atemnot von den Ärzten als relativ harmlose Begleiterscheinung von Alter/Rau- chen/Psyche abgetan, während es längst eine beginnende Lungenfibrose ist. Dass man sich um seine Lunge beizeiten kümmern sollte, weiß keiner besser als Roland Kaiser, dem wegen COPD ein Lungenflügel transplantiert wurde – und ein halbes Jahr später stand er schon wieder auf der Bühne, frohlockt Dr. Beeh. Klar, auch dem Rauchen ist ein eigenes Kapitel gewidmet, es heißt: „Der Hauch des Todes“. Überraschenderweise winkt der Pneumologe ab: „Über das Rauchen ist alles gesagt“, meint er.

Und er erzählt ein bisschen von Zeiten, als Rauchen als gesund galt, der Lungenkrebs noch so selten war wie heute die Pest und der Marlboro Man von großen Plakatwänden herab mit dem Lagerfeuer um die Wette qualmen durfte. Vorsichtig – ganz vorsichtig – weist Dr. Beeh nach, dass die E-Zigaretten und die Heets vielleicht doch ein wenig besser sind als ihr Ruf: „Natürlich wäre es noch schöner, wenn Raucher es schaffen könnten, ganz aufzuhören. Die positiven Gesundheitseffekte wären enorm. Aber wie realistisch ist das?“ In Großbritannien, so erzählt Beeh, habe die Umstellung auf „rauchfreie“ Zigaretten zu 25 000 zusätzlichen Nichtrauchern jährlich geführt. Dort sagen die Ärzte „It’s time to switch!“

Das Fazit: L-I-E-B-E Doch wer so gut und unauffällig arbeitet wie die Lunge, wird einfach nicht richtig ernst genommen. Und so ist dann auch einer der wenigen, ein klein wenig resigniert klingenden Sätze in dem Buch: „Bei einem Auto wechselt man nach 50 000 Kilometern den Partikelfilter. Bei der Lunge geht das nicht. Wenn wir sehen könnten, was wir jeden Tag einatmen, würden wir wahrscheinlich die Luft anhalten.“ Doch Dr. Beeh wäre kein Lungenfacharzt, wenn er dem Leser nicht am Ende fünf Säulen für altersloses Atmen nennen würde (L-I-E-B-E abgekürzt). Rauchen kommt allerdings nicht darin vor. 

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 05/19 ab Seite 124.

Alexandra Regner, PTA und Journalistin

Kai-Michael Beeh: Die atemberaubende Welt der Lunge. Warum unser größtes Organ Obst mag, wir bei Konzerten husten müssen und jeder Atemzug einzigartig ist.
Originalausgabe, 288 Seiten, 17 Euro, ISBN 978-3-453-20707-3

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