© EdnaM / iStock / Getty Images Plus

Kunst und Naturwissenschaften

DER ZEICHNENDE ANATOM

Zeitlebens beschäftigte und faszinierte Leonardo da Vinci die Erforschung des menschlichen Körpers. Seine Studien hätten die Medizin revolutionieren können, wären sie nicht für lange Zeit verschollen geblieben.

Seite 1/1 5 Minuten

Seite 1/1 5 Minuten

Wie in vielen Städten Italiens kündigte sich auch im Florenz des 15. Jahrhunderts eine Phase des kulturellen und gesellschaftlichen Wandels an: Es war die Zeit der Entdecker, der Forscher und Gelehrten, die die Dogmen der Kirche ins Wanken und althergebrachtes Wissen auf den Prüfstand brachten. Humanistische Bildung sollte den Menschen befähigen, sich selbst zu verwirklichen und seine wahre Bestimmung zu erkennen. Dass das wertvolle Gedankengut antiker Gelehrter jetzt zunehmend Verbreitung fand, hatte man vor allem dem erst kürzlich erfundenen Buchdruck zu verdanken.

Zeitenwende Die neue Geisteshaltung übte nicht nur große Anziehungskraft auf Dichter und Denker aus, sie spornte auch Künstler und Architekten zu neuen Ideen und kreativem Handeln an. Bauwerke, Bilder und Statuen sollten einem neuen Schönheitsideal entsprechen; doch auch in der Darstellung des menschlichen Körpers spielten ideale Maße und Proportionen eine große Rolle. Um Menschen in realistischen Posen zu präsentieren, wurde es üblich, dass Maler wie Bildhauer auch anatomische Studien betrieben.

Der Mensch als Maß aller Dinge Leonardo da Vinci war schon als Lehrling daran interessiert, die Anatomie hinter der Mimik und Gestik seiner Figuren zu verstehen. Als Meister der Künste und auf der Suche nach dem idealen Bild des menschlichen Körpers nahm er sich später den mathematischen Beschreibungen des Römers Marcus Vitruvius Pollio an. In den Büchern des Ingenieurs und Architekten war genau zu lesen, wie er Ausgewogenheit und Schönheit mit Zahlen und geometrischen Strukturen verband; vollkommene Harmonie sah Vitruv in einem Menschen mit ausgestreckten Extremitäten, der sich sowohl in die Form des Kreises als auch in die des Quadrates einfügen kann. Leonardo da Vinci folgte den Beschreibungen des Gelehrten, denn als Maler war er bestrebt, die menschliche Anatomie auch bildlich im exakten Maßverhältnis umzusetzen. Er zeichnete einen Mann aufrecht stehend in zwei überlagerten Positionen; den Nabel seines Körpers setzte er in das Zentrum des Kreises, beim Quadrat platzierte er den Mittelpunkt jedoch in den Schritt.

Gruseliges Handwerk Mit Proportionsstudien wie sie in der Antike üblich waren, erschloss sich Leonardo da Vinci von nun an verschiedene Aspekte des Körperbaus. Er vermaß Hände, Arme und Beine, nahm Maß an Gesichtern und Schädeln, sogar am Knochengerüst. Um sein medizinisches Wissen zu erweitern, nahm er Kontakt zu den forschenden Ärzten auf und die medizinischen Abhandlungen des berühmten Galen zur Hand. Weil ihn aber viel mehr interessierte, was sich im Inneren des Körpers verbarg, wagte er sich auch bald an seine ersten Sektionen heran.

Weder der Gestank von Moder noch Zersetzung hielten ihn ab, das Fleisch von den Köpfen zu schälen und an den Knochen zu sägen. In dunklen Kellergewölben untersuchte er zuerst Kiefer und Zähne, bevor er die Formen und Erscheinungen des Gesichtes zu erkunden begann. Er erforschte die Organe, die atmen und schlucken, und versuchte die Entstehung der Laute durch Zungen und Lippen zu ergründen. Fasziniert experimentierte er an den Hohlräumen im Schädel, den Ventrikeln; doch auch dem Auge und dem Verlauf der Sehnerven schenkte er besondere Aufmerksamkeit.

Tiefe Einblicke Obwohl ihm die schlimmsten Strafen drohten, setzte sich Leonardo da Vinci über die Verbote der Kirche hinweg. Immer tiefer grub er sich in die Leiber der Toten ein, untersuchte Leber und Lungen mit dem gleichen Eifer wie die Speiseröhre und den Verdauungstrakt. Als versierter Ingenieur wollte er sich den Körper auch in mechanischem Sinne verständlich machen. Er untersuchte das Zusammenspiel von Muskeln, Sehnen und Gelenken und kam zu dem Schluss, dass Muskeln und Knochen das Rückgrat stabilisieren und Arme und Beine, sogar die Beißkraft einzelner Zähne, nach dem Hebelgesetz funktionieren. Als erster Anatom fertigte er Zeichnungen der Wirbelsäule an; sowohl die Krümmung als auch die Anzahl der Wirbel gab er richtig wieder. Um das Geheimnis des Lebens zu ergründen, erforschte er den Zeugungsakt und wendete sich den verschiedenen Stadien der menschlichen Entwicklung zu. Er zeichnete ein ungeborenes Kind im Mutterleib und füllte ein ganzes Notizbuch mit Skizzen zur Embryologie.

Durchbruch in der Medizin Als ihm die päpstlichen Machthaber den Zugang zu den Leichenkammern endgültig untersagten, setzte da Vinci seine Sektionen an Tierkadavern fort. Am Herz eines Ochsens beschrieb er den Aufbau der Herzkammern und die Funktion der Herzklappen; in seinen Anmerkungen hielt er sogar fest, wie Blutwirbel entstehen und was im Inneren des Herzen alles geschieht. In den letzten Jahren seines Schaffens kreisten seine Gedanken um die Vorgänge des Alterns und die Vergänglichkeit des irdischen Lebens. Immer wieder beschäftigten ihn die Ursachen von Krankheiten und die Frage, woran Menschen eigentlich sterben. Als er die Arterien eines alten Mannes mit denen eines Kindes verglich, erkannte er, dass die Blutgefäße im Alter krumm werden und verdicken. Am Leichnam eines Hundertjährigen stellte er als Todesursache eine Verengung der Herzkranzgefäße und das Versiegen des Blutflusses fest.

Virtuose mit Feder und Kreide Als junger Mann trieb ihn sein Ehrgeiz als Maler zu anatomischen Studien an, doch dann siegte wie so oft in seinem Leben der Forscherdrang. In all den Jahren als Anatom fertigte Leonardo da Vinci hunderte von Ansichten menschlicher und tierischer Körper an. Organe gab er aus verschiedenen Blickwinkeln wieder; auch griff er zu optischen Kniffen, um komplizierte Körperteile verständlicher zu machen. Was sich nicht zeichnen ließ, schrieb er in Worten nieder. Wie üblich verfasste der Linkshänder Anmerkungen und Notizen in Spiegelschrift. In ihrer Korrektheit weichen die Skizzen Leonardo da Vincis in nur wenigen Ausnahmen von unserem heutigen Wissen ab; dennoch fanden sie in der Medizingeschichte nur am Rande Erwähnung; auch hat man seine Erkenntnisse nie zur Heilung von Menschen genutzt. Nach seinem Tod verbreitete sich sein Nachlass auf seltsamen Wegen. Die bedeutendste Sammlung anatomischer Studien befindet sich inzwischen im Besitz der britischen Königin.

Schönheit in Kreis und Quadrat Der Mann im Kreis und Quadrat ist heute populärer als je zuvor; der sogenannte Vitruvianische Mensch strahlt Vitalität aus und wirkt auf seine Betrachter athletisch und gesund. Als Sinnbild für Schönheit und Körperbewusstsein dient er zahlreichen medizinischen Institutionen als Logo. Auch findet sich die Figur auf Medizinprodukten sowie auf den Karten mancher Krankenkassen wieder. Viele Jahrhunderte wusste niemand von seiner Existenz, dann wechselte das Meisterwerk da Vincis oftmals seinen Besitzer. Seit 1822 wird die 34,4 cm × 24,5 cm große Zeichnung in Venedig, im klimatisierten Depot der Gallerie dell' Accademia, aufbewahrt. Der Öffentlichkeit wird sie nur zu besonderen Anlässen präsentiert.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 01/20 ab Seite 110.

Dr. Andrea Hergenröther, Apothekerin

×