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Repetitorium

DER MUSKELAPPARAT DES MENSCHEN – TEIL 1

Mildere Temperaturen, längere Tage – die Menschen zieht es nach draußen, sie wollen sich bewegen. Was wären wir da ohne unsere Muskeln? Doch sorgen sie nicht nur für Mobilität, sondern auch für Stabilität und die Aufrechterhaltung vegetativer Funktionen.

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Ungefähr 650 Muskeln gewährleisten die Bewegung von Ballerinas, Profi-Fußballern und Schlangenmenschen, aber auch von Spaziergängern und Bürohengsten. Dabei hat nicht jeder Mensch unbedingt gleich viele Muskeln – den kleinen Lendenwirbelmuskel besitzt beispielsweise nur jeder Zweite. Und nicht jeder hat den gleichen Zugriff auf seine Muskulatur, so kann nicht jeder Mensch mit seinen Ohren wackeln.

Obwohl die Beweglichkeit der Ohren früher nötig war, um gefährliche Geräusche schneller orten zu können oder bei der Jagd erfolgreicher zu sein. Häufig wird vergessen, dass Muskeln außer Bewegung noch mehr können: Ohne sie hätten wir nicht genügend Rumpf-Stabilität, um aufrecht gehen zu können, ohne sie würden wir nicht atmen oder verdauen, unser Herz würde nicht schlagen. So unterschiedlich die Muskelfunktionen sind, so unterschiedlich ist auch ihr Aufbau. Und den schauen wir uns in diesem Repetitoriumsteil einmal genauer an.

Quer- und längsgestreiftBei der Muskulatur, also der Gesamtheit aller Muskeln im Körper, handelt sich um ein Organsystem, das nicht nur im menschlichen Körper, sondern in allen Gewebetieren vorkommt – massenbezogen stellt es das größte Organ des Körpers dar. Ein einzelner Muskel wird als kontraktiles Organ bezeichnet, da er in der Lage ist, sich zusammenzuziehen und wieder zu entspannen. Wodurch sowohl willentliche als auch unbewusste Bewegungen im Körper möglich sind – beispielsweise das Ergreifen eines Gegenstandes ebenso wie das Weiterpumpen des Blutes aus dem Herzen. Dabei erinnert die Form eines angespannten Muskels unter der Haut an eine Maus, weshalb die verschiedenen Muskeln im Lateinischen die schöne Vorsilbe musculus – Mäuschen – tragen.

Würde man die gesamte Muskulatur unter einem Lichtmikroskop betrachten, würden direkt strukturelle Unterschiede ins Auge fallen: Manche erscheinen mit einem periodisch wiederholten Querstreifen-Muster, andere zeigen sich als Verbund aus glatten, langgezogenen Muskelzellen. Nach diesen histologischen Merkmalen lassen sich alle Muskeln in glatte und quergestreifte Vertreter unterteilen. Zur quergestreiften Muskulatur zählen die Skelett- und die Herzmuskulatur, zur glatten Muskulatur der Großteil der viszeralen Muskelfasern oder die Gefäßmuskulatur. Lediglich die Skelettmuskulatur lässt sich willentlich steuern, sie wird daher auch als somatische Muskulatur bezeichnet.

5 Fakten über Muskeln

+ Der kräftigste Muskel ist der „Gluteus maximus“, der große Gesäßmuskel. Doch er wird noch vom Zungenmuskel übertroffen, zumindest wenn man die Stärke im Verhältnis zur Muskelgröße sieht.

+ Nur so groß wie eine Stecknadel, aber immens wichtig: Der Steigbügelmuskel zieht sich bei großer Lautstärke zusammen und schützt so unser Innenohr.

+ Was glauben Sie, wer den ersten Platz belegt, wenn es um Schnelligkeit geht? Natürlich der „Musculus orbiculari“, der Augenringmuskel. Er kann blitzschnell reagieren, wenn uns etwas ins Auge fliegt.

+ Unser längster Muskel ist stramme 50 Zentimeter lang: Der Schneidermuskel verbindet unsere Hüfte mit dem Knie.

+ Jedem ist bestimmt klar, dass unser Herz wohl der wichtigste Muskel im Körper ist. Seine Leistung ist enorm: Mit seiner Pumpleistung könnte er innerhalb einer Stunde eine Badewanne mit Flüssigkeit füllen.

Stand und Bewegung Medizinstudenten müssen sich durch eine Liste von rund 650 Skelettmuskeln quälen – so viele gibt es im menschlichen Körper. Sie sind alle an das Skelett fixiert und gewährleisten dessen Beweglichkeit, obwohl auch der Zungenmuskel oder der Kehlkopfmuskel ohne direkten Knochenkontakt zu den Skelettmuskeln zählen. Der anatomische Aufbau ist bei allen Muskeln identisch, wenn auch etwas komplex. Wir beginnen im Kleinsten: Die Myofilamente Aktin und Myosin, fadenförmige Proteine, die lediglich im Elektronenmikroskop sichtbar sind, bilden den Großteil einer Skelettmuskelfaser. Ihre Anordnung führt zu dem charakteristischen Querstreifenmuster und zur Beweglichkeit der Muskulatur: Die überlappenden Polymere können ineinander und auseinander gleiten, wodurch sich der Muskel verkürzt und wieder entspannt.

Mehrere Filamente bilden zusammen eine Myofibrille, die bereits unter einem Lichtmikroskop erkennbar ist. Viele dieser Fibrillen füllen eine große Muskelzelle aus – jetzt ist von einer Muskelfaser die Rede. Bis zu zwölf Muskelfasern bilden ein Primärbündel (Faserbündel), das bereits mit bloßem Auge erkennbar ist. Ebenso wie die daraus gebündelten Sekundärbündel (Fleischfasern), die von gut durchblutetem Bindegewebe und einer Muskelfaszie in Form eines Tertiärbündels ummantelt werden. Diese letzte und damit größte funktionelle Einheit ist durch eine Sehne mit einem oder mehreren Knochen verbunden. Aktiviert und gesteuert werden Skelettmuskeln durch motorische Nerven. Diese senden elektrische Impulse los, was zur Ausschüttung des Neurotransmitters Acetylcholin führt, der das Aktionspotential auf die motorische Endplatte eines Muskels überträgt.

Die daraus resultierende Muskelaktivität kann willentlich oder unwillkürlich (Muskelreflex) erfolgen. Auf molekularer Ebene passiert dabei folgendes: Der Muskel verkürzt sich, kontrahiert also, ohne, dass sich die Länge seiner Filamentproteine verändert – wie das? Die Filamentproteine sind, wie bereits erwähnt, in der Lage, ineinander zu gleiten. Dabei schiebt sich das innere, dickere Filament (Myosin) am äußeren, dünneren Filament (Aktin) vorbei. Das gelingt durch eine Veränderung der chemischen Konfiguration der Myosin-Moleküle. Diese besitzen nämlich kleine Köpfchen, die ihren Winkel zum restlichen Molekül-Schaft verändern können. Dieses „Nicken mit dem Köpfchen“ löst eine Ruderbewegung aus, die das Ineinandergleiten erwirkt.

Kommt ein Nervenimpuls an, wird Ca2+ ausgeschüttet, das einerseits eine Enzymreaktion auslöst, die das Myosinköpfchen nicken lässt, andererseits eine Bindungsstelle am Aktinfilament für das „Nickende Köpfchen“ freigibt. Dieser Vorgang braucht Energie? Nicht direkt, was Energie in Form von ATP benötigt, ist das Lösen dieser Verbindung zwischen Myosin- und Aktinfilament. ATP lagert sich am Myosinköpfchen an und führt dazu, dass es wieder in seinen Ausgangszustand zurückgleitet, ähnlich einer Feder unter Spannung. Die Filamente gleiten wieder auseinander und der Muskel entspannt sich. Liegt kein ATP vor, kann die Muskelkontraktion nicht gelöst werden – so ist es beispielsweise beim Einsetzen der Totenstarre.

Gegensätze und Partner Schaut man sich das Zusammenspiel der Gesamtskelettmuskulatur an, begegnen einem zusammenwirkende und gegeneinander spielende Muskeln – sogenannte Agonisten und Antagonisten beziehungsweise Synergisten. Das klassische Beispiel für Agonist und Antagonist sind Bizeps und Trizeps: Betreiben wir Hanteltraining zur Stärkung der Oberarmmuskulatur, dehnen und kontrahieren sich Bizeps und Trizeps abwechselnd. Andernfalls wäre keine Armbeugung möglich. Der Beuger in der Bewegung wird auch Flexor, der Strecker Extensor genannt. Ein Beispiel für Synergisten wären Trizeps und die Brustmuskeln beim Absolvieren von Liegestützen.

Spreizen wir unsere Beine und führen sie wieder zusammen, benötigen wir die innere und die äußere Oberschenkelmuskulatur. Sie agieren während dieser Bewegung als Adduktoren (Anzieher) und Abduktoren (Abzieher). Und dann gibt es natürlich noch Skelettmuskeln, die Drehbewegungen ausführen können, zum Beispiel am Kopf oder Unterarm – sie werden als Rotatoren bezeichnet. Muskeln lassen sich aber auch auf andere Art und Weise kategorisieren, zum Beispiel anhand ihrer anatomischen Funktion. So unterscheidet man:

  • Ringmuskel wie den Ziliarmuskel zur Verformung der Linse oder sämtliche Schließmuskeln beispielsweise am Magen- oder Blasenausgang,
  • Hohlmuskel wie das Herz oder den Magen,
  • spindelförmige Muskeln, die durch ihre Form ausladende und schnelle Bewegungen, wie zum Beispiel durch den Schollenmuskel in der Wade, ermöglichen,
  • federförmige Muskeln, deren Fasern gefiedert aussehen und für kurze und kräftige Bewegungen sorgen, wie sie im Oberschenkel benötigt werden,
  • mehbäuchige Muskeln, bei denen die Muskelbäuche durch Fasern getrennt sind, wie bei der Bauchmuskulatur und
  • mehrköpfige Muskeln wie Bizeps und Trizeps.

Natürlicher Muskelschwund

Ab dem 30. Lebensjahr bauen wir jährlich ungefähr ein Prozent Muskelmasse ab. Zumindest dann, wenn wir nicht mit regelmäßiger körperlicher Aktivität entgegensteuern. Liegen wir den ganzen Tag im Bett oder auf der Couch, haben wir im Alter von 65 Jahren bereits 35 Prozent an Muskelmasse eingebüßt – und verlorene Muskelmasse wieder aufzubauen ist schwierig und ein langwieriger Prozess.

Die schlagende Kraft Über die Herzmuskulatur oder das Herzmuskelgewebe könnte man vermutlich einen eigenen Repetitoriumsteil schreiben, so komplex sind die Abläufe, die jeden Tag ganz von selbst in unserer oberen Körpermitte ablaufen. Der Herzmuskel wird in der Literatur auch häufig als Myokard bezeichnet und bildet den Großteil der Herzwand. Es handelt sich um einen Hohlmuskel, der von außen durch das Epikard und von innen durch das Endokard begrenzt wird. Wird dieser Muskel kontrahiert, zieht er sich zusammen – ähnlich einer Faust, die geschlossen wird. Dadurch wird das Volumen des Hohlraums verkleinert und das Blut kann weitergepumpt werden. Somit ist klar, dass sowohl die Vorhöfe als auch die Kammern über voneinander unabhängig agierende Muskeln verfügen. Zudem lässt sich das Myokard noch in eine Arbeitsmuskulatur (Arbeitsmyokard) und dem Erregungsbildungs- und Erregungsleitungssystem zugeordnete Muskulatur unterscheiden. Das Herz verfügt nämlich über ein eigenes Nervensystem, das sogenannte Reizleitungssystem. Eine weitere Besonderheit: Das Myokard kann nicht krampfen, ganz im Gegensatz zur Skelettmuskulatur, wie wahrscheinlich jeder schon einmal schmerzhaft feststellen musste. Aber die größte Besonderheit liegt natürlich in der Kontraktionsauslösung: Das Myokard ist der einzige Muskeltyp, der selbstständig Aktionspotenziale auslösen kann. Die Weiterleitung dieser Impulse geschieht über sogenannte Gap Junctions, Zell-Zell-Kanäle, die durch die Zellmembranen zweier benachbarter Zellen verlaufen. Ein Herzschlag beginnt beim primären Schrittmacher, dem Sinusknoten. Dieser schreibt die Herzfrequenz vor, die bei einem gesunden Menschen zwischen 60 und 80 Schlägen die Minute liegt. Das Aktionspotenzial wird an den AV-Knoten weitergegeben, durchläuft noch einige weitere Zwischenschritte und erreicht schließlich den Herzmuskel der Kammern und Vorhöfe. Dieser entspannt sich und Blut läuft von den Vorhöfen in die Kammern. Dem schließt sich eine zweite Phase an, in der sich die Muskulatur wieder anspannt, alle Klappen sind geschlossen, der Druck im Herzen erhöht sich, die Kammern ziehen sich zusammen und das Blut wird weiter gepumpt. Die beiden Phasen werden als Diastole und Systole bezeichnet und finden bei jedem Herzschlag statt. Bei Blutdruckschwankungen ist das Herz selbstständig in der Lage, zu reagieren. Davon abgesehen ähnelt die Herzmuskulatur in ihrem Aufbau der Skelettmuskulatur: Sie ist quergestreift, verfügt über ein Tubuli-System, in das Calcium zur schnellen Muskelkontraktion eingelagert ist, und baut sich in ein Bündelsystem auf. Im Gegensatz zur Skelettmuskulatur haben Muskelzellen allerdings nur einen Zellkern – ganz so wie die glatte Muskulatur. Daher wird das Myokard an manchen Stellen auch als Sonderform zwischen diesen beiden Muskeltypen beschrieben.

Ohne jede Bewusstseinskontrolle Die glatte Muskulatur ist charakterisiert durch langgestreckte Muskelzellen, die keine Streifung aufweist und sich vor allem an den Wänden der Hohlorgane findet, also zum Beispiel am Darm, den Blutgefäßen oder den Atemwegen. Durch ihre Intervention werden also Form, Funktion und Anspannung der inneren Organe bestimmt. Ohne glatte Muskulatur könnten wir nicht atmen, verdauen, Flüssigkeiten absondern; kurz gefasst: nicht leben. Im Gegensatz zur quergestreiften Muskulatur verkürzt sich die Muskulatur deutlich langsamer, jedoch ausgeprägter: Eine Verkürzung um bis zu einem Drittel ihrer Ausgangsgröße ist möglich. Wir können sie nicht willentlich steuern – oder wer hat schon einmal willentlich einen Bissen Brot weitertransportiert? – und sie kann lange ohne große Anstrengung im kontrahierten Zustand existieren. Mit der Skelettmuskulatur wäre dies nur schwer vorstellbar. Die Muskelfasern lassen sich unterscheiden in Single-Unit- und Multi-Unit-Typ. Beim Single-Unit-Typ gewährleisten Gap Junctions den schnellen Austausch von Ionen und Second-Messenger-Molekülen, also eine rasche Erregungsweiterleitung. Dadurch kontrahieren die Zellen nahezu gleichzeitig. Diesen Typus findet man beispielsweise in der Darmwand, im Uterus und in den Harnleitern. Im Gegensatz dazu sind Muskelfasern vom Multi-Unit-Typ nicht von Nachbarzellen abhängig. Sie werden durch spezielle Nervenendigungen ausgehend vom vegetativen Nervensystem kontrolliert. Die Atemwege, Blutgefäße sowie die Haarmuskeln sind mit diesem Typus ausgestattet. Generell werden glatte Muskelzellen durch das vegetative Nervensystem kontrolliert, sodass die Neurotransmitter Noradrenalin (Sympathikus-Innervation) und Acetylcholin (Parasympathikus-Innervation) eine wichtige Rolle spielen. Auch hier läuft eine Kontraktion durch überlappende Myofilamente ab, der Aufbau nach Faserbündeln entspricht ebenfalls dem der Skelettmuskulatur. Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 04/2020 ab Seite 92. Farina Haase, Apothekerin/Online-Redaktion

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