Der Apothekenkrimi

DER HEILIGE VITUS – TEIL 5

WAS BISHER GESCHAH: Die PKA Rieke zweigt Medikamente ab, um sie ihrem Freund zu geben. Eine demente Apothekenkundin taucht im Club auf, um mit dem neuen Pharmazie-Praktikanten zu tanzen. Und auch Britta ist mit diesem Michael Vitus plötzlich an einem Ort, an dem sie nicht sein sollte. Merkwürdige Dinge geschehen in der Bärenbach-Apotheke und um sie herum. Am merkwürdigsten ist aber der Geruch, der Britta seit Tagen in der Nase steckt: Es riecht nach Humulus lupulus, dem Echten Hopfen. An einem Ort, an den er nicht gehört …

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Wäre die Bärenbach-Apotheke bereits geöffnet gewesen, so hätte das Publikum eine Apothekerin mit wirrem Blick und schief zugeknöpfter Bluse durch den Verkaufsraum fegen sehen. Britta Baduoin, die sozusagen direkt aus dem Bett kam und keine Zeit verlieren wollte, griff sich den Tresorschlüssel aus der Schublade und öffnete dessen schwere Tür. Auf den Regalbrettern standen, wie immer, die verschreibungspflichtigen Betäubungsmittel dem Namen nach aufgereiht: Fentanyl, Methylphenidat, Morphin – und ganz am Schluss ein Plastikdöschen mit dem Aufdruck „Cannabis flos“. Britta griff danach und ihre Hand zitterte ein wenig. Sie drehte am gelben Deckel, schraubte ihn auf und schaute hinein.

Was sie sah, ließ sie die Stirn runzeln. Langsam richtete sie sich auf. Dann ging sie langsam, mit schleppenden Schritten, hinüber ins Labor. Zog sich einen weißen Bogen Papier aus dem Regal mit den Fachbroschüren und kippte den Inhalt der kleinen Dose darauf. Das war nun blöd. Jemand hatte die Pflanzenblüten sorgfältig zermörsert. Niemand hätte mehr sagen können, ob unter den getrockneten Teilen des Medizinalhanfes Hopfenblüten gesteckt hatten, alles sah gleich aus. Britta wusste, dass sie eine Stichprobe des Doseninhaltes unter das Mikroskop nehmen musste. Denn wieder hatte sie den fremden Geruch wahrgenommen, der ihr bereits seit Tagen in der Nase steckte: der unverkennbare Geruch von Humulus lupulus, dem echten Hopfen. Und der hatte nun mal inmitten der Cannabisblüten nichts zu suchen. Sie blickte auf die Laboruhr. Viertel vor acht. Wenn sie schnell zu Werke ging….

Britta zog die Plastikhaube vom Mikroskop, das nur noch sehr selten genutzt wurde. Dann bückte sie sich, um die Schranktür zu öffnen, hinter der die Objektträger verstaut waren. Irgendwo musste doch auch noch ein Fläschchen mit Chloralhydrat sein, das brauchte sie zum Anfärben. Britta wollte gerade den Hahn der Gasflasche öffnen, der den Bunsenbrenner unter dem Abzug starten sollte, als plötzlich die Labortür geöffnet wurde. Viel später, als sie die Ereignisse noch einmal Revue passieren ließ, konnte sie sich immer noch nicht erklären, was danach plötzlich geschah. Wo kam dieser Windstoß her, der das Papier mit den Pflanzenteilen aufwirbelte? Innerhalb von Sekunden verteilten sich grünlich-braune Stückchen, die wie gerebeltes Heu aussahen, über das gesamte Labor.

Ein Teil landete auf dem Fußboden, eine Schliere sammelte sich auf der rot gekachelten Arbeitsplatte und ein paar Brocken blieben auf der Abdeckung der Feinwaage liegen. In der Tür stand Michael Vitus. „Oh je“, sagte er. „Ich wusste nicht, dass Sie hier arbeiten.“ Britta starrte ihn an. „Was tun Sie hier?“ „Es ist halb neun.“ Das konnte nicht sein. Sie hatte doch noch nachgesehen… Ihr Blick blieb auf dem Zifferblatt der Wanduhr hängen und tatsächlich: Vitus hatte recht. „Was ist das?“ fragte der Pharmaziepraktikant und trat einen Schritt vor. „Sie haben gerade eine Dose Medizinalhanf vernichtet. Wir müssen ihn wohl verwerfen.“ Michael Vitus wurde blass, soweit sich das unter seiner gebräunten Gesichtshaut beurteilen ließ. Britta hatte sich immer schon gewundert, dass der Mann so frisch und erholt aussah, als komme er gerade aus einem längeren Urlaub. „Du lieber Himmel“, sagte er. „Was habe ich da bloß getan. Wie kann ich das wiedergutmachen?“

Rieke, die ausnahmsweise bei Yannick übernachtet hatte, konnte nicht glauben, was sie da sah. Sie betrachtete die Maschine mit dem Einfüllstutzen und dem seitlichen runden Drehrad. Neben der Tablettenpresse lagen die Blister mit den abgelaufenen Medikamenten fein säuberlich ausgebreitet; daneben stand, noch zugeschweißt, ein durchsichtiger Beutel mit einem weißen Pulver. Sie hörte das Rauschen der Dusche im Badezimmer und Yannicks Gesänge darunter: „We are the Champions“ sang er gerade. Rieke fröstelte. In der Abstellkammer hatte sie nach ihrer Jacke gesucht und dabei einen Hohlraum hinter dem Kleiderständer entdeckt. Zunächst hielt sie das, was sie da sah, für eine Fräsmaschine oder ähnliches, sie kannte sich da nicht so aus, war aber mit mehreren Brüdern und einem Hobbyheimwerker als Vater aufgewachsen.

Doch bei näherem Hinsehen erkannte sie zweifelsfrei den Sinn und Zweck dieser Maschine. Die würfelzuckerähnlichen Stücke in der Auffangschale waren bestimmt nicht für den Kaffee gedacht. Sie waren mit einem gezackten Rand versehen und trugen einen geprägten Stern in der Mitte. Rieke hatte diese weißen Pillen schon einmal gesehen, und zwar mehr als einmal. Am Rand der Tanzfläche im Club wurden sie verstohlen weitergeben. Jaqueline de Schreurs trug sie in einem Zellophan-Tütchen mit sich. Und Rieke hatte sich gewundert, dass man solch ein Aufhebens um ein bisschen Traubenzucker machte. Die PKA lehnte sich zurück und ließ sich gegen Yannicks dicke Winterjacke sinken, die den Schlagpressenaufbau erfolgreich verdeckt hatte. Was hatte sie da angerichtet!

Wie unglaublich dankbar er gewesen war, als sie ihm zum ersten Mal Cannabis aus der Apotheke mitgebracht hatte. Es war nicht schwer gewesen, welches abzuzweigen; schließlich oblag ihr die Kontrolle des Wareneingangs. Zuerst hatte sie nur ein paar Hopfenblüten in die Dose geschmuggelt und andere dafür herausgenommen; später erkannte sie, dass ein leichtes Zermörsern noch viel bessere Möglichkeiten bot. Salbei zum Beispiel sah Cannabisblüten auch nicht unähnlich – wenn er nur nicht so streng gerochen hätte. Der Geruch verriet jedoch auch die Hopfenblüten, weshalb Rieke mit der Zeit vorsichtiger wurde. Als die Chefin an der roten Humulus-lupulus-Tüte roch, war ihr ganz schummrig geworden. Yannick schien heute ein besonders ausgeprägtes Reinlichkeitsbedürfnis zu haben und röhrte immer noch den Refrain des Queen-Songs (schon zum dritten Mal).

Rieke war schon fertig im Bad, durfte aber eine Stunde später in die Apotheke kommen; Britta hatte ihr großzügig überstundenfrei gegeben. Die PKA zuckte zusammen, als es an der Tür klingelte. Wer konnte das sein? Sie öffnete und stand Michael Vitus gegenüber, der sie ernst ansah. „Komm mit mir“, sagte er. Er ließ es nicht zu, dass sie sich verabschiedete. Und Rieke, erschüttert über ihre neu gewonnenen Erkenntnisse, folgte ihm lammfromm, nachdem sie ihre Jacke an sich genommen und den Blick auf die Tablettenpresse freigelassen hatte – sogar die Tür der Abstellkammer hatte sie offengelassen. Als sie Michael Vitus die Treppe hinunterfolgte, ihre Handtasche eng an sich gedrückt, begegneten sie zwei Polizeibeamten. Vitus nickte ihnen zu. „Dritter Stock“, sagte der eine zum andern und rückte mit einer knappen Bewegung seine Schirmmütze gerade.

Epilog Britta war nicht der Mensch, der alten Zeiten hinterhertrauerte, aber zurzeit war sie nahe dran. Michael Vitus fehlte ihr. Wieviel besser alles mit ihm gelaufen war, dachte sie betrübt. Er hatte ja nicht nur dieses Händchen für schwierige Kunden gehabt und diese ausgedehnten Fachkenntnisse. Er hatte auch immer wieder geduldig zugehört, wenn die Menschen ihre Geschichten erzählten und dabei oft vom Hundertsten ins Tausendste kamen. Nie ließ er angefangene Vorgänge unerledigt zurück; wenn Michael den Botendienst bearbeitete, konnte man sicher sein, dass auch jedes einzelne Medikament seinen Bestimmungsort erreichte. Nicht einmal in der ganzen Zeit hatte er dabei einen Fehler gemacht. Vor allem aber vermisste Britta sein Talent zum Befrieden. Ihre Truppe war zwar nicht gerade streitlustig – aber dass er ihre PKA wieder in die Spur gebracht hatte, das rechnete sie ihm hoch an.

Rieke war seit dem einen merkwürdigen Tag, an dem Britta morgens dem Verdacht mit den Cannabisblüten nachgegangen war und Michael wenig später mit ihr im Schlepptau aufgetaucht war, wie ausgewechselt. Von einem Tag auf den anderen verschwanden die schwarzen Klamotten und auch das Augenbrauen-Piercing musste dran glauben. Rieke wurde wieder zu der ausgeglichenen, zuverlässigen jungen Frau, die sie vorher gewesen war. Ob das damit zusammenhing, dass dieser Yannick, ihr Freund, in den Bau gewandert war? Britta hatte erfahren, dass man ihm Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz nachgewiesen hatte – angeblich fertigte er die Tabletten in einer Art Hobbywerkstatt selber an.

Britta hoffte sehr, dass Rieke nie wieder mit diesem Jungen zusammentreffen würde. Hoffnung gab ihr dabei die Tatsache, dass der Exfreund aus Berlin wiederaufgetaucht war. Er wartete jetzt mehrmals in der Woche vor der Apotheke, um Rieke abzuholen. Britta kannte ihn von früher und mochte ihn sehr. Er tat Rieke gut. Auch Hubert de Schreurs‘ Wandlung erstaunte sie. Als er vor kurzem ein neues Rezept einlöste, musste sie zweimal hinschauen, um ihn wiederzuerkennen. Er hatte kräftig abgenommen und wirkte wie jemand, der sich sportlich betätigte, das verriet seine Körperspannung. Britta war aufgefallen, dass sein Arzt ihm kein Insulin mehr verschrieb – wohl, weil sein Patient es nicht mehr brauchte. Wenn Britta sich den Mann so anschaute, konnte sie die Reaktion seiner Frau Jaqueline verstehen.

Die war kürzlich sehr energisch dazwischen gegangen, als „Hubertchen“ etwas zu lange mit der rassigen Gattin von Luigi, dem Eissalonbesitzer, geplaudert hatte. Dem Vernehmen nach hatte sich das Ehepaar eine Zweitwohnung in Berlin genommen, wo ja schließlich immer noch eine Zweigstelle von „Schreurs Schrauben“ beheimatet war. Doch so harmonisch sich das alles anließ, was nach Michael Vitus Praktikum geblieben war, über eines kam Britta überhaupt nicht hinweg: Dass er so sang- und klanglos verschwunden war. Nicht einmal auf Wiedersehen hatte er gesagt. Eines Morgens war er einfach nicht mehr erschienen. Anrufe auf sein Handy nahm er nicht an; später kam die Ansage: „Der angerufene Teilnehmer ist nicht mehr erreichbar“. Wie wahr.

Britta war zunächst so sauer, dass sie sich ebenfalls nicht mehr rührte. Sollte der doch seiner Bescheinigung hinterherlaufen! Aber mit der Zeit plagte sie doch das schlechte Gewissen: Der arme Kerl konnte ja ohne die Bescheinigung sein Abschlussexamen nicht ablegen. Also bequemte sie sich doch, druckte das Papier aus und unterschrieb. Nur – an welche Adresse sollte sie es schicken? Ratlos holte sie seine Bewerbungsunterlagen aus dem Ordner und schaute die offiziellen Stempel durch. Alle trugen den Aufdruck der Uni Mainz. Auf dem handschriftlichen Anschreiben war nur die alte Adresse zu finden. Schließlich nahm sie den Hörer ab und rief im Institut für Pharmazie und Biochemie der Universität Mainz an. „Was kann ich für Sie tun?“ fragte schließlich eine Frauenstimme, als sie endlich mit dem zuständigen Sekretariat verbunden worden war.

Britta brachte ihr Anliegen vor und fragte, ob sie die Praktikumsbescheinigung an das zuständige Institut schicken dürfe. Und wie denn bitte die korrekte Adresse des Examenskandidaten sei. „Moment“, sagte die Frau. Dann hörte Britta lange nichts, bis auf das Klicken der Computertastatur. Und dem Rascheln von Papier. Schließlich kehrte die Mitarbeiterin ans Telefon zurück. „Ich finde hier keinen Michael Vitus“, sagte sie. Britta stutzte. „Vielleicht hat er die Uni gewechselt?“ fragte sie. „Ich habe das nachgeprüft. Nein, ein Mann dieses Namens war hier niemals eingeschrieben. Ich habe alle Namen des ersten und zweiten Staatsexamens abgefragt. Und, um ihre Frage vorwegzunehmen: Er ist auch nicht zur Abschlussprüfung gemeldet.“ Britta bedankte sich und legte den Hörer auf. Warum wundert mich das nicht, dachte sie. Und dann stellte sie sorgfältig den Bewerbungs-Ordner zurück in das Regal. n Und damit endet unser 7. Apothekenkrimi „Der Heilige Vitus“. Von der Bärenbach-Apotheke mit Britta Badouin und ihrer PTA Annette von der Leyden lesen Sie wieder im Dezember-Special „Das Weihnachtsrätsel“.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 11/19 ab Seite 132.

Hier geht es zu Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4 der Serie.

Alexandra Regner

Was bisher geschah
Die PKA Rieke zweigt Medikamente ab, um sie ihrem Freund zu geben. Eine demente Apothekenkundin taucht im Club auf, um mit dem neuen Pharmazie-Praktikanten zu tanzen. Und auch Britta ist mit diesem Michael Vitus plötzlich an einem Ort, an dem sie nicht sein sollte. Merkwürdige Dinge geschehen in der Bärenbach-Apotheke und um sie herum. Am merkwürdigsten ist aber der Geruch, der Britta seit Tagen in der Nase steckt: Es riecht nach Humulus lupulus, dem Echten Hopfen. An einem Ort, an den er nicht gehört …

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