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Psychische Erkrankungen

DEPRESSION IST KEIN MOTIV

Nach dem Amoklauf in München warnt die Deutsche Stiftung Depressionshilfe vor einer Ausgrenzung psychisch kranker Menschen. Die Stigmatisierung erhöhe für Betroffene die Hürde, sich professionelle Hilfe zu holen.

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Nach Gewalttaten wie dem Amoklauf in München am 22. Juli gibt es immer wieder Diskussionen über den psychischen Zustand der Täter. Der Axt-Attentäter von Würzburg soll beispielsweise traumatisiert und psychisch gestört gewesen sein, beim Amokläufer von München sei eine Erkrankung aus dem depressiven Formenkreis diagnostiziert worden und der Attentäter von Ansbach habe bereits Suizidversuche verübt. 

Stigmatisierung Doch was genau ist ein Amoklauf eigentlich? Bei der Tat handelt es sich um ein gezieltes, geplantes Hinrichten von Menschen, wobei der eigene Tod in der Regel in Kauf genommen wird. Für diese schwere Straftat gibt es die unterschiedlichsten Motive, ein Zusammenhang zwischen Depressionen und derartigen Taten lässt sich allerdings nicht herstellen. Es besteht die Gefahr, dass psychisch kranke Menschen durch die in den Medien oft unkritisch hergestellte Brücke zwischen schweren Gewaltverbrechen und psychischen Problemen ungerechtfertigt stigmatisiert werden.

Experten warnen daher davor, die Ursache für Attentate in psychischen Störungen zu sehen.
Professor Ulrich Hegerl, Direktor der Klinik für Psychiatrie an der Universität Leipzig äußerte sich gegenüber der Ärztezeitung folgendermaßen: „Einen Zusammenhang zwischen dem Amoklauf in München und einer Depression halte ich für nahezu ausgeschlossen. Menschen mit Depressionen neigen zu Schuldgefühlen, das ist ein Kernsymptom der Depression. Solche Menschen kommen nicht auf den Gedanken, andere mit in den Tod zu reißen.“

Suizid statt Amok Depressionen kommen in der Bevölkerung häufig vor und so kann es sein, dass bei den Tätern bereits ein Stimmungstief diagnostiziert wurde – die Taten werden allerdings nicht aus einer Depression heraus begangen, schließlich fehlt es Depressiven an Kraft und Energie, an einen bestimmten Ort zu fahren und dort um sich zu schießen. Ausgedehnte Phasen von Verzweiflung und Traurigkeit, wie sie bei Depressionen vorkommen, können allerdings die Ursache einer Selbsttötung sein.

Der Suizid ist meist keine Kurzschlusshandlung, sondern wird vorab präzise geplant. Paradoxerweise wirken Personen, welche den Entschluss für eine Selbsttötung gefasst haben, in der Zeit kurz vor ihrem Vorhaben wie befreit, manchmal sogar heiter. Aggressionen richten sich in diesem Zustand also in erster Linie gegen die eigene Person, denn Betroffene möchten anderen keine Last mehr sein.

Uneindeutige Studienlage Auch in Verbindung mit der abgestürzten Germanwings-Maschine wurde diskutiert, ob Depressive dazu neigen, nicht nur sich selbst, sondern auch weitere Menschen mit in den Tod zu reißen. Der Co-Pilot des Flugzeugs führte im März 2015 mit 149 unbeteiligten Passagieren den Absturz des Fliegers bewusst herbei. Professor Seena Fazel von der Universität in Oxford untersuchte eine Reihe von schwedischen Patientenregistern nach ambulant behandelten Depressiven im Alter von rund 30 Jahren und betrachtete, wie oft sie in den drei Jahren nach der Diagnose Gewaltverbrechen begingen.

Er fand heraus, dass die Gewaltbereitschaft Depressiver im Schnitt erhöht ist. Doch Vorsicht im Umgang mit diesem Ergebnis: Bei der Untersuchung handelt es sich nicht um eine prospektive Studie, hinzu kommt, dass die Diagnosen unsicher waren. Möglicherweise waren sie vor dem Hintergrund mildernder Umstände gestellt worden oder die Depression ging mit manischen Zuständen einher, in denen beispielsweise Verwicklungen in Schlägereien durchaus vorstellbar sind. Eine weitere prospektive Studie aus dem Jahr 2009 fand keine Zusammenhänge zwischen einer Depression und einem höheren Risiko für Gewalttaten.

Legenden Folgende drei Fehlvorstellungen halten sich als Erklärung für Amokläufe: Zunächst ist es der Mythos, dass Amokläufe meist impulsive Spontantaten seien. Dass Amokläufer plötzlich ausrasten und andere Menschen attackieren, ist jedoch eine seltene Ausnahme. Stattdessen sind die Taten geplant und weisen, im Nachhinein betrachtet, eine Vorlaufphase auf.

Eine weitere falsche Annahme besteht darin, dass Amokläufe vor allem im fernöstlichen Kulturkreis auftreten sollen. Gelegentlich wird Amok auch von einigen Fachleuten als kulturspezifisches Ereignis eingestuft. Ein differenzierter Vergleich von US-amerikanischen Amokläufern mit Tätern aus Asien ergab jedoch hohe Übereinstimmungen und nur wenig Unterschiede in Bezug auf die Herkunft, sodass die Autoren zu der Schlussfolgerung kamen, dass Amok ein kulturunabhängiges Phänomen ist.

Zuletzt hat die Psychiatrisierung von Amok dazu beigetragen, dass die Gründe für diese Taten in seelischen Erkrankungen der Täter gesucht wurden. In nicht wenigen Fällen spielen zwar Psychopathologien eine wichtige Rolle im Vorlauf, die einzige oder primäre Ursache sind sie in der Regel nicht, denn es gibt verschiedene weitere Faktoren, die an der Genese der Tatmotivation beteiligt sind.

Mögliche Erklärungsansätze Durch Paradigmen wie das Modelllernen oder das Operante Konditionieren hat man versucht, die Entstehung von Amoktaten nachzuvollziehen: Grossmann und Degaetano sehen beispielsweise einen entscheidenden Einfluss von Massenmedien und Videospielen bei der Entstehung von Gewalttaten von Kindern und Jugendlichen.

Psychoanalytische Modelle postulieren, dass tief in der Persönlichkeit verwurzelte narzisstische Schwächen von Amokläufern dazu führen, dass Zurückweisungen von anderen als für das Selbst bedrohlich wahrgenommen werden, auf die der Betroffene mit Aggression reagiert. Amok wird auch vor dem Hintergrund dissoziativer Störungen diskutiert, dafür spricht, dass Betroffene einige zentrale Kriterien der dissoziativen Impulskontrollstörung erfüllen.

Dauerhaftes Stimmungstief Die Bezeichnung Depression leitet sich von dem lateinischen Verb deprimere (niederdrücken) ab. Die Erkrankung kennzeichnet sich in erster Linie durch Hoffnungslosigkeit, innere Leere und Verzweiflung und endet im Extremfall im Suizid. Betroffene empfinden keine Freude mehr, ihnen fehlt meist der Antrieb für Aktivitäten und ihr Selbstwertgefühl sowie ihre Leistungsfähigkeit sind stark eingeschränkt.

Depressionen werden den affektiven Störungen zugeordnet und laut ICD-10 in depressive Episoden sowie rezidivierende depressive Störungen eingeteilt. Laut ICD-10 ändert sich die gedrückte Stimmung von Tag zu Tag kaum, kann allerdings charakteristischen Tagesschwankungen unterliegen.
Der Betroffene reagiert meist nicht auf die jeweiligen Lebensumstände.

Für die Diagnose depressiver Episoden wird gewöhnlich eine Dauer von mindestens zwei Wochen verlangt, kürzere Zeiträume können nur dann berücksichtigt werden, wenn die Symptome ungewöhnlich schwer oder schnell aufgetreten sind. In Deutschland sind etwa vier Millionen Menschen von behandlungsbedürftigen Depressionen betroffen. Nicht optimal behandelte Depressionen verursachen laut der Deutschen Stiftung Depressionshilfe unnötiges Leid und sind die Hauptursache für die jährlich etwa 10 000 Suizide in Deutschland.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 10/16 ab Seite 46.

Martina Görz, PTA, B. Sc. und Fachjournalistin

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