Frauen umarmen sich.© PIKSEL / iStock / Getty Images

Bücher, von denen man spricht

DAS BUCH ÜBER DAS ÄLTERWERDEN

Altwerden ist wahrlich nichts für Feiglinge – dieser Prämisse stellt sich Dr. Lucy Pollock, denn sie ist Geriaterin. Warmherzig, humorvoll und kenntnisreich berichtet sie aus ihrem Alltag. Und der gibt uns Antworten.

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Jede PTA kennt sie, die älteren Kunden mit den Trippelschritten und dem Stapel von rosa Rezepten, auf denen beispielsweise Amlodipin, Furosemid und ein Anticholinergikum stehen. Vielleicht auch ein blaues mit Lorazepam. Jeder kennt das Beharren auf der rot-weißen (oder blau-grünen) Packung, weil in der anderen, wirkstoffgleichen, „was drin ist, das mir nicht hilft“. Und sicher weiß man auch um das Gefühl, das einen beschleicht, wenn man die alte Dame, den alten Herrn zum Auto wackeln sieht: Kann er/sie denn überhaupt noch sicher fahren?

Der Führerschein und das große D Um diese Fragen geht es in dem neuen Buch der Geriaterin Dr. Lucy Pollock. Sie schreibt über die kleinen Dinge wie die äußerst hilfreiche Mikrowelle, und sie schreibt über das Sterben, sie fragt, wann der Führerschein abgegeben werden sollte und wie man der Demenz begegnet. Und natürlich beschäftigt sie sich auch mit den peinlichen Themen: Inkontinenz. Was zu tun ist, wenn die Mutter den Pflegedienst aufgrund ihres unbeherrschten Wesens hinauswirft.

Und dass auch Ärzte wie sie manchmal irren können. Lucy Pollock war eine junge Ärztin, als sie nach einem Fachvortrag über Operationstechniken bei Inkontinenz zur Vortragenden aufschloss, um ihr eine Frage zu stellen. Hochschwanger wartete sie geduldig in der Schlange, bis sie an der Reihe war: „Frau Professor, darf ich Sie fragen, welchen Rat Sie Frauen geben würden, die eine Operation am liebsten ganz vermeiden möchten?“ Die Professorin schaute sie lange an. „Kriegen Sie keine Kinder – und fangen Sie schon mit vierzehn an, regelmäßig Beckenbodenübungen zu machen.“

Ein Trolley voller Medikamente Zum Glück hat sie weitergemacht. Denn klar sind wir nicht alle zum unausweichlichen Tröpfeln verdammt. Inkontinenz kann beispielsweise auch an der falschen Medikation liegen, ebenso wie Schwindel und der daraus folgenden Angst vor Stürzen. Im für uns PTA sehr aufschlussreichen Kapitel über Polypharmazie beschreibt sie, wie sie ein altes Ehepaar empfängt: Peggy, die am Rollator geht, und Joe, der ihr mit einem Einkaufstrolley voller Medikamente folgt: Er holt drei alte Eiscremebehälter voller Arzneien heraus, 15 Packungen sind es insgesamt, exklusive zweier Hautcremes: „Polypharmazie liegt vor, wenn fünf oder mehr Medikamente eingenommen werden.“

Ab und zu sollte ein Arzt oder eine PTA beziehungsweise ein Apotheker das eingenommene kontrollieren und durchforsten. Im Fall des alten Ehepaars kam man sogar darauf, dass ein Medikament das andere aufgrund der Wechselwirkung bedingt und dass hier ein Aussortieren durchaus Sinn machte. Lucy Pollock widmet sich mit Hingabe der Frage, wann einen alten Menschen möglicherweise die Urteilskraft über sein eigenes Verhalten verlässt – und was das mit den Angehörigen macht. So wie die Tochter von Connie, die verzweifelt ist, denn man legt ihr nahe, ihrer Mutter den Führerschein abzunehmen. Sie parkt mitten auf dem Bürgersteig, wenn es ihr passt, fährt mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit und bringt dabei Menschen in Gefahr.

„Autofahren“, weiß Pollock, „ist ein heikles, emotional aufgeladenes Thema, denn es hat sehr viel mit Selbstständigkeit zu tun.“ Das Buch ist aus Sicht des britischen Gesundheitssystems geschrieben, doch der deutsche Verlag hat die Bestimmungen hierzulande in Fußnoten eingedruckt – es ist also nicht so, dass man in Deutschland ohne Altersbeschränkung nach oben immer und jederzeit weiterfahren dürfte. „Die meisten Älteren fahren gut und sicher und wissen instinktiv, wann es Zeit ist, damit aufzuhören. Aber eben nicht alle.“

Sich dem Unausweichlichen stellen Schwierig, das ist auch der Umgang mit dem großen D, mit der Demenz. Wenn die Zeichen auf Sturm gesetzt sind, also das Unausweichliche ins Haus steht, rät Pollock unumwunden: „Machen Sie ein Testament, regeln Sie Ihre Finanzangelegenheiten, sprechen Sie mit Ihren Angehörigen über Handlungsvollmachten, sowohl in Bezug auf die Finanzen als auch bezüglich der Gesundheitsfragen, der Lebensqualität.“ Handeln, wenn es noch selbstbestimmt möglich ist: „Wenn Sie schon vor langer Zeit versprochen haben, Ihre Schwester in Australien zu besuchen, dann ist jetzt der Moment, das Vorhaben umzusetzen.

Schieben Sie nichts auf, genießen Sie die Gegenwart, schaffen Sie sich einen Speicher schöner Erinnerungen.“ Doch Pollock weiß auch um die ambivalenten Gefühle Angehöriger gegenüber schwierigen Demenzpatienten und spricht sie offen aus. Das ist die große Stärke dieses Buches: Nichts wird in rosarote Watte gepackt. Tröstliche Worte findet Pollock, wenn sie das Sterben beschreibt: „Es fühlt sich vielleicht so an, als würde sich die demente Person von uns zurückziehen. Ihr Körper vergisst, dass das Leben von uns Menschen verlangt, dass wir essen und trinken, und ganz am Ende vergisst die Lunge zu atmen, und das Herz vergisst zu schlagen.“ Demenz, das führt bei den Angehörigen oft zu einem schlechten Gewissen: „Wir müssen die Pflegenden unterstützen und auch ihre Nöte sehen. Demenz versucht, die Liebe zu zerstören. Wir müssen denen, deren Liebesfähigkeit erschöpft zu sein scheint, die Liebe zurückgeben.“

George, der Held Wenn die letzte Schlacht geschlagen ist; Körper und Seele erschöpft sind, dann sitzt Lucy Pollock manchmal am Bett ihrer Patienten und führt sehr private Gespräche mit ihnen. Es erweist sich oft, dass sie vorbehaltlos gehen möchten, wenn ihre Zeit gekommen ist. Nur um ihre Angehörigen tut es ihnen leid; sie möchten ihnen nicht wehtun. Ganz am Ende, sagt Pollock, da gibt es eine Phase des sehr flachen Atmens „und dann atmet der Mensch aus, aber eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr ein. Und am Schluss, dann kommt ein Ausatmen, auf das einfach kein Einatmen mehr folgt. Manchmal passiert das so leise, dass die Angehörigen es nicht einmal bemerken. Das normale menschliche Sterben ist ein sehr sanfter Prozess, einer, den wir erkennen, auf den wir uns gefasst machen und mit dem wir umgehen können.“

George, ein Patient von Lucy Pollock, hat sich so verabschiedet: Er sagte zu seiner Tochter, die um die sechzig war: “Nina, du bist jetzt erwachsen. Ich denke, du kommst gut allein zurecht.“ Pollock fand damals: „George, du bist ein Held. Du hast es genau richtig gemacht.“

Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 07/2021 ab Seite 124.

Dr. Lucy Pollock
Das Buch über das Älterwerden (für Leute, die nicht darüber sprechen wollen) übersetzt von Ulrike Becker Hardcover, gebunden Dumont, 352 Seiten, 22 Euro ISBN 978-3-8321-8150-5

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