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Schmöker

CITY OF GIRLS

Wer ein Buch sucht, das einen derart hineinzieht in seine Welt, dass man Teil der Geschichte wird, der ist bei diesem genau richtig: City of Girls beschreibt den irrlichternden Lebensweg einer unkonventionellen Frau.

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Die Tochter schreibt ihr. „Nun, da meine Mutter nicht mehr ist, frage ich mich, ob Sie sich im Stande sehen, mir zu erzählen, was Sie für meinen Vater waren?“ Da die Tochter des einzigen Mannes, den Vivian je liebte, nun auch schon siebzig ist, kann man nachvollziehen, dass die Handlung des Buches in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts spielt. Und zwar in New York. Und dort zunächst an einer Theaterkompagnie, später dann in einem Geschäft für Brautmoden.

Auch das letzte Buch ein Bestseller Elizabeth Gilbert, die Autorin des Buches, kennen Sie bestimmt. Sie hat „Eat, Pray, Love“ geschrieben, ein Werk, das den Untertitel „Eine Frau auf der Suche nach fast allem“ trägt und das mit Julia Roberts in der Hauptrolle verfilmt wurde. Was mich damals schon erstaunte, war, dass diese Erzählung so viel Lebensweisheit in sich trägt. Dann erfuhr ich das Alter der Autorin: 52 ist sie erst. Da staunte ich noch mehr. Denn auch diese Art von Klugheit kommt im Roman wieder vor, doch man übersieht sie leicht, denn alles ist verpackt in einer Mischung aus Charme und Witz und Lebenslust, ausgesprochen amüsant und niemals langweilig.

Vivian kommt aus guter amerikanischer Familie, landet traditionsbewusst am Vassar College, wo sie faulheitsbedingt genötigt wird, diese Stätte akademischer Gelehrsamkeit wieder zu verlassen. Ihre Eltern schicken sie ratlos weiter zu ihrer Tante Peg, die ein Theater in New York leitet. Naja, was heißt Theater: Das „Lily Playhouse“ ist mehr eine Spielstätte seichter Musicals mit unbekannten Darstellern und einer Menge Revuegirls mit schönen Beinen. Wenn einmal 20 Besucher zur Aufführung kommen, ist das schon viel, und natürlich ist das Ensemble ständig von der Pleite bedroht.

Eine coole Vierzigerjahre-WG Aber oh, es ist dort lustig. Man wohnt in dem alten, mehrstöckigen Gebäude zusammen wie in einer Familie, wie in einer Art Riesen-WG. Die Mädels teilen sich nicht nur die Schminke, sondern auch die Männer, das Faktotum Herbert kann jede elektrische Leitung reparieren, ein anderer schreibt die „Drehbücher“, Tante Peg ist mit Olive zusammen, Showgirl Cassie schläft jede Nacht in Vivians Bett, aber nur als platonische Freundin. Es erweist sich, dass Vivian ein Genie an der Nähmaschine ist, und so wird sie „Kostümdirektorin“. Sie macht aus alten Lumpen, aus Sofabezügen, Gardinen, gebrauchten Kleidern und Anzügen traumhafte Gebilde für die „Schauspieler“. Und Tante Pegs Ehemann Billy ist auch noch da. Sie leben längst nicht mehr zusammen, da Drehbuchautor Billy eine Schwäche für Starlets hat, doch sie schätzen einander sehr.

Als eine Freundin zu Besuch kommt, die einmal eine wirklich berühmte Schauspielerin war, schreibt Billy ihr ein Stück auf den Leib, das sich als Überraschungserfolg entpuppt und einschlägt wie eine Bombe selbst im theaterverwöhnten New York. Alle sind wie elektrisiert und geben ihr Bestes, und wenn Sie bis dahin drangeblieben sind am Stoff, muss ich Ihnen leider sagen: Sie werden nicht mehr loskommen. Sie werden wissen wollen, wie es weitergeht. Das Buch macht süchtig, und keine Medizin kann das kurieren. Bloß weiterlesen hilft.

Der Skandal, der alles ändert Tja, und dann wird die zwanzigjährige, sehr hübsche Vivian Teil eines Skandals, damals, in einer Zeit, in der Klatschreporter der großen Zeitungen noch die Macht haben, Karrieren zu zerstören mit Geschehnissen, die heute keinen Menschen mehr aufregen würden. Sie flüchtet nach Hause, zu ihrer spießigen Familie, heiratet beinahe einen langweiligen Traumschwiegersohn, der es allerdings merkwürdig findet, dass seine Braut längst keine Jungfrau mehr ist, und sich dann freiwillig zum Kriegsdienst meldet. Es sind also zwei Drittel des Buches vergangen und noch immer ist er nicht aufgetaucht, der Mann, dessen Tochter am Anfang des Buches um Auskunft bittet. Es wird echt immer spannender, das können Sie mir glauben.

Als Vivian einige Verwicklungen später endlich ihr Brautmoden-Geschäft aufmacht und entdeckt, dass es richtig Spaß macht, allein zu leben („Solange ich mich von verheirateten Männern fernhielt, schien ich keinen Schaden anzurichten“), stellt sie fest: „Es kommt der Punkt im Leben einer Frau, an dem sie es leid ist, sich ständig nur zu schämen. Danach steht es ihr frei zu werden, wer immer sie wirklich ist.“ Das ist eine wertvolle Erkenntnis, die man so ganz nebenbei in diesem Buch mitgeliefert bekommt, ha!

Endlich kommt er: der Traummann Und dann, auf Seite 417 (von 495), schlägt es zu, das Leben und die Liebe. Diese leidenschaftliche Beziehung, diese tiefe Zuneigung hat alles, was ein erfolgreicher Liebesfilm nicht hat: Nie gehen sie miteinander ins Bett. Nie betrügen sie die offizielle Ehefrau. Nie verzehren sie sehnsuchtsvolle Blicke miteinander. Stattdessen gehen sie immer nur spazieren, vorzugsweise nachts. Einmal legen sie ihre Hände aufeinander, das ist aber auch schon alles. Und doch – ach! - es rührt den Leser so.

Möchte man auch haben: einen Mann wie Frank, der ein paarmal in der Woche abends anruft und leise fragt: Gehen wir miteinander los? Der Seelenverwandte, der seine andere Hälfte gefunden hat. Die Seelenverwandte, die sagt: „Es gab eine einsame und unbewohnte Ecke in meinem Herzen, von deren Existenz ich gar nichts ahnte – und Frank zog geradewegs dort ein.“ Sie vertrauen sich alles an und dann schickt er ihr seine Tochter, damit sie ihr ein Brautkleid näht. Die Tochter ist ziemlich cool und hat genauso wenig Bock auf die Ehe wie Vivian, weswegen sie sich auch recht gut verstehen.

Schluss mit dem Spoilern So, und jetzt ist aber Schluss, sonst verrate ich noch alles. Lesen Sie! Und seien Sie froh, wenn Sie wieder herauskommen können aus der Handlung, die einen unheimlichen Sog entwickelt. In New York stand das Buch monatelang auf der Bestsellerliste, kein Wunder aber auch. Eine „Prosa, die herunterrinnt wie Champagner“ nannte die deutsche Frauenzeitschrift „Brigitte“ die Sprache des Buches, und das ist eigentlich eine gute Idee: Gießen Sie sich ruhig ein Glas Sekt zur Lektüre ein, es muss ja kein Champagner sein, der ist immer so teuer. Und genießen Sie ihn, den Schmöker des Monats.

Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 06/2021 ab Seite 102.

Elizabeth Gilbert City of Girls
übersetzt von Britt Somann-Jung Paperback S. Fischer Verlag, 496 Seiten, 16,99 Euro ISBN: 978-3-10-002476-3

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