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Vergessene Krankheiten

ARMUT, KRANKHEIT UND SOZIALE NOT

Notstände überschatten in allen Epochen das feudale Leben in der Lagunenstadt. Viele Orte und Bauwerke sind Zeugen dieser vergangenen Zeiten. Inmitten der Stadt steht ein Waisenhaus, das es zu außergewöhnlicher Popularität brachte.

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Über viele Jahrhunderte ist Venedig die mächtigste Stadt in Europa. Während der Handel den Privilegierten ein reiches Auskommen sichert, wird der Großteil der Bevölkerung in Armut geboren. Für viele von ihnen ist das Bitten um Almosen die einzige Möglichkeit, sich vor dem Hungertod zu retten. Auch Blinde, Lahme und Verkrüppelte liefert ihr ungnädiges Schicksal an den Bettelstab. Als auf dem Festland Kriege ausbrechen und immer mehr Menschen Zuflucht in der Lagunenstadt suchen, nimmt die Zahl der Mittellosen drastisch zu. Die Kirchen und Klöster nehmen sich der Bedürftigen an, aber auch ihre Kapazitäten sind begrenzt. Armut und Not stellen ein öffentliches soziales Problem dar a a und verlangen nach einem Heilsplan von der Regierung. In Venedig ist man es gewohnt zusammenzuhalten. Die Obrigkeiten entwickeln gemeinsam Strategien für den Umgang mit der Not. Im Auftrag der Stadt wird erstmals ein modernes Fürsorgesystem ins Leben gerufen und der Kontrolle der Gesundheitsbehörde unterstellt. Neben zahlreichen Krankenhäusern und Quarantänestationen zählen auch die „Ospedale“ zu den Einrichtungen, die sich dem Schicksal der Benachteiligten annehmen.

Käufliche Liebe im Schatten des Todes Doch nicht alle Notleidenden finden den Weg ins öffentliche Asyl. Viele Frauen bestreiten ihren Lebensunterhalt mit der Prostitution. Nur wenige von ihnen bringen es zur Mätresse eines wohlhabenden Mannes, die meisten der Frauen leben als einfache Dirnen in separierten Wohngebieten. Dort bedienen sie nicht nur Seeleute und Hafenarbeiter, sondern auch gut situierte Bürger und Vertreter gehobener Schichten. Das Geschäft mit der käuflichen Liebe blüht. Der häufige Wechsel der Geschlechtspartner bietet Lustseuchen allerdings ein leichtes Spiel. Schon bald treten in der Stadt die ersten Syphilis-Fälle auf. Ganz ohne Furcht geschieht die Befriedigung der Triebe nun nicht mehr. Mit der Zeit wird die Liste der Opfer immer länger und die Prostitution zu einer akuten gesundheitlichen Gefährdung. Die Gesundheitsbehörde plädiert auch hier für die Isolierung der Infizierten und erklärt das “Ospedale degli Incurabili” zur Unterkunft für die unheilbar Kranken. Die dort durchgeführte Behandlung mit Quecksilbertinkturen ist ebenso schmerzhaft wie gefährlich.

Die Frauen mit den Engelstimmen Die zahlreichen Waisenkinder, die die Prostitution hervorbringt, finden ihr Zuhause in einem Heim für Findelkinder. Während die Jungen dort ein Handwerk erlernen, werden die Mädchen zu virtuosen Sängerinnen und Instrumentalistinnen ausgebildet. Denn Musik spielt in der Liturgie der Kirchen und Klöster eine große Rolle. Innerhalb kurzer Zeit etabliert sich die „Pieta“ zu einem angesehen Konservatorium, an dem sich die renommiertesten Komponisten jener Zeit um die Position des „Maestro di Coro“ bewerben.

Vivaldi - der Superstar der Barockmusik Die glanzvollsten Zeiten erlebt das Ospedale, als der Musikvirtuose und frisch gebackene Priester Antonio Vivaldi aus der benachbarten Kirchengemeinde seinen Dienst dort antritt. Vivaldi kommt gut an, ist sehr engagiert und unterrichtet die Mädchen mit großer Leidenschaft. Selbst das Komponieren geht ihm rasch von der Hand, für ein Konzertstück benötigt er nur einen Tag. Musiker aus ganz Europa pilgern nach Venedig, um den quirligen Star und seinen barocken Musikstil persönlich zu erleben. Sein flammend rotes Haar, das gut zu seinem überschäumenden Temperament passt, bringt ihm den Spitznamen „Prete Rosso“, der rote Priester ein. Einer Mode der Zeit folgend, wird Vivaldi nun auch für die Opernbühne tätig und reist vor allem viel herum. Nach einem längeren Gastspiel in Mantua und Rom kehrt er wieder nach Venedig zurück. Doch dort hat der Höhenflug bald ein Ende, denn in Venedig ist auch die Musik der Mode unterworfen. Als der Maestro seine Popularität endgültig verliert, verlässt er die Stadt und versucht sein Glück in Wien, wo er völlig verarmt stirbt. So wertvoll sein Schaffen auch war, nach seinem Tod gerät er erst einmal in Vergessenheit.

Bruderschaften sorgen für soziale Absicherung Den „Scuole“, die auch einen Großteil der Armen- und der Krankenpflege in Venedig übernehmen, liegt vor allem das Wohlergehen ihrer in Not geratener Mitglieder am Herzen. Zu den wichtigsten Aufgaben der religiösen Gemeinschaften gehören die Betreuung der Sterbenden sowie die Versorgung der Hinterbliebenen. Die großen Bruderschaften Venedigs, die „Scuole Grande“ sind mitgliederstark, einflussreich und sehr vermögend. Neben der karitativen Tätigkeit sind Repräsentation und Prachtentfaltung ein wichtiger Schwerpunkt ihres Wirkens. In der prunkvollen Ausschmückung ihrer Versammlungshäuser finden sie zu einer eigenen Form der Selbstdarstelllung. Nirgendwo in Venedig zeigt sich die Bedeutung und der Reichtum der Bruderschaften so deutlich wie in der Scuola Grande di San Rocco. Für die Ausmalung der Räumlichkeiten hat man damals den talentierten Tintoretto beauftragt.

Als Napoleon die Stadt erobert, lässt er sämtliche Kirchen und Scuolen schließen. Nur die Scuola Grande di San Rocco konnte diesem Erlass entgehen. Heute gehört sie zu den bedeutendsten Sehenswürdigkeiten Venedigs. Am Campo SS. Giovanni e Paolo liegt die einst wohlhabendste und einflussreichste aller venezianischen Bruderschaften. Die Scuola Grande di San Marco wird heute museal und als Teil des städtischen Krankenhauses genutzt. Das medizinhistorische Museum im großen Versammlungssaal gewährt dem Besucher mit zahlreichen Drucken und chirurgischen Instrumenten detailreiche Einblicke in das Gesundheitswesen vergangener Zeiten. Eine breite Palette von Exponaten zeigt das anatomisch-pathologische Museum, das man dem flämischen Mediziner Andreas Vesalius gewidmet hat. Er gilt als der Begründer der modernen Anatomie.

Der Reformer im Anatomiesaal Vesalius wird als Sohn eines Apothekers geboren und kommt sehr früh in Berührung mit der Medizin, schon als Kind betrachtet er sich die Überreste gehenkter Verbrecher. Seine Ausbildung genießt er an den bes- a a ten Adressen. In Paris nimmt er sein Studium auf, in Padua wird er promoviert. Nichts tut er lieber, als Leichen zu sezieren. Dabei wird ihm immer deutlicher, dass die Überlieferungen Galens nicht zu seinen eigenen Beobachtungen passen. Galen hatte Tierkörper seziert, Vesalius seziert am Menschen. Als Gastprofessor setzt Vesalius seine wissenschaftliche Karriere in Venedig fort. Er kämpft mit Leib und Seele für seine Forschung. Am Stadtspital unterrichtet er Anatomie und verfasst hier Lehrmaterial für seine Studenten. Früh erkennt der Mediziner, dass Schaubilder in seinen Vorlesungen von großem Nutzen sind. In der Lagunenstadt trifft er auf Holzschneider und Maler, die ihm bei der künstlerischen Gestaltung seiner anatomischen Tafeln behilflich sind. Sein Buch „Über den Bau des menschlichen Körpers“ gilt als eines der bedeutendsten Werke der Renaissance. Aus seinen Schriften lernen Mediziner bis heute.

Moderne Krankenpflege in historischen Gemäuern Den Zutritt zum Ospedale Civile erhält man heute durch das Eingangsportal der Scuola Grande di San Marco. Im Innern des Komplexes verbinden mehrere historische Kreuzgänge die Fachabteilungen eines modernen Krankenhauses. Der Rettungsdienst heißt hier „Pronto Soccorso“; neben dem Eingang parken Rettungsboote, die selbst die engsten Seitenkanäle in der Stadt problemlos erreichen.

Auch der Star lebt wieder auf Unter dem Dach des ehemaligen Ospedale della Pieta befindet sich heute das kleine, aber feine „Museo della Pieta Antonio Vivaldi“. Hier zeigt sich das reiche Erbe, das das Waisenhaus der Musikwelt hinterlassen hat: zahlreiche historische Dokumente berichten von der Geschichte der Waisenkinder und ihrer besonderen Gemeinschaft im Kloster. Ausgestellt werden außerdem die Instrumente, auf denen die Mädchen musiziert und ihre Werke zur Aufführung gebracht haben. Für Musikexperten sind vor allem die Partituren von großer Bedeutung, denn sie bezeugen sowohl das hohe Niveau der Interpretinnen als auch die Experimentierfreude Antonio Vivaldis. Die Kirche Santa Maria della Pieta gehört zu den elegantesten spätbarocken Bauwerken in Venedig. Aufgrund ihrer ausgezeichneten Akustik wird sie gerne für musikalische Darbietungen genutzt. Vivaldi gehört zu den meistgespielten Barockkomponisten der Stadt, denn die überragende Qualität seines Schaffens weiß man heute wieder hoch zu schätzen. 

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 11/17 ab Seite 154.

Dr. Andrea Hergenröther, Apothekerin

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