Interview

GEMEINSAM STARK BEI DIABETES

„Mit einer Stimme“ die Interessen der Patienten zu vertreten und die Prävention, Versorgung und Forschung in Deutschland voranzutreiben – das ist die Idee hinter diabetesDE, erklärt Dr. Stefanie Gerlach.

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Mit welcher Zielsetzung wurde die Organisation gegründet?
diabetesDE ist 2008 von der DDG und dem VDBD gegründet worden, mit dem Ziel, alle Patienten, Forscher, Diabetologen und Vertreter der Diabetes-Beratungsberufe nach dem Vorbild der britischen Gesellschaft „diabetesUK“ in einer gemeinsamen Organisation zu vereinen. diabetesDE will aufklären, informieren, Hilfestellung geben, vernetzen, gegen Diskriminierung wirken, politisch für Verbesserungen in der Prävention und Versorgung streiten – kurz: Menschen mit Diabetes eine Stimme verleihen und Gehör verschaffen.

Denn Diabetes ist in aller Regel ein verschwiegenes Leiden. Diabetes tut auch über viele Jahre nicht weh und deshalb wird er oft massiv unterschätzt. Wir wissen, dass die Politik auch durch steigende Erkrankungszahlen bislang erstaunlich wenig zu beeindrucken war. Das Problem wird in seiner Größenordnung von der Politik leider immer noch verkannt und ignoriert. Da die Politik nur auf öffentlichen Druck reagiert, wollen wir Diabetes „öffentlich“ und zu einem akzeptierten Gesellschaftsthema machen, so wie AIDS und Krebs heute gesellschaftlich akzeptiert sind. diabetesDE ist sozusagen die politische Interessenvertretung aller Menschen in Deutschland, denen Diabetes am Herzen liegt.

VITA
Dr. Stefanie Gerlach studierte Oecotrophologie an der Universität in Gießen, wo sie auch promovierte, und absolvierte ein Fernstudium zur PR-Managerin. Bevor sie letzten Oktober das Ressort Gesundheitspolitik bei diabetesDE übernahm, leitete sie das Adipositas-Therapiezentrum des Allgemeinen Krankenhauses in Hagen; gleichzeitig war sie als Fachreferentin, Seminarleiterin
und Projektmanangerin für Verbände, Firmen, Stiftungen und Krankenkassen tätig. Zuvor arbeitete sie als Ernährungsberaterin sowie als Dozentin an Berufsfachschulen des Gesundheitswesens und Kliniken.

Mit welchen anderen Institutionen/Organisationen sind Sie vernetzt?
Wir kooperieren eng mit den Experten unserer Gründungsorganisationen, zum Beispiel bei Stellungnahmen, Experten-Chats oder bei lokalen Veranstaltungen wie Gesundheitstagen oder der zentralen Veranstaltung zum Weltdiabetestag. Mit dem Deutschen Diabetiker Bund geben wir in Kooperation anlassbezogen gemeinsame Pressemitteilungen heraus oder wir unterstützen uns gegenseitig bei Demonstrationen.

Ende 2010 hat diabetesDE eine Deutsche Allianz gegen Nichtübertragbare Krankheiten initiiert. Gemeinsam haben wir an der Vorbereitung des gleichnamigen UN-Gipfels mitgewirkt, der Mitte September in New York stattfand und setzen uns hier zu Lande für mehr Gesundheitsförderung ein. International sind wir als Mitgliedsgesellschaft der International Diabetes Federation mit europäischen und außereuropäischen Diabetesvereinigungen vernetzt. Wir pflegen regelmäßige Kontakte zu verschiedenen Ebenen in Ministerien.

Projektgebunden kooperieren wir mit einer Vielzahl von Organisationen, Institutionen und Wirtschaftsunternehmen. Wir bieten zum Beispiel mit der TUI Reisen für Menschen mit Diabetes an, haben mit dem TÜV Rheinland ein Gütesiegel für Fitnessstudios entwickelt und kooperieren mit vielen Verlagen. Allein am Weltdiabetestag, der dieses Jahr am 13. November in Berlin stattfinden wird, werden wir von knapp 50 Firmen und 40 Vortragsexperten unterstützt. Darunter sind auch Prominente, wie „Blacky“ Fuchsberger und Maite Kelly. Wir erhalten sowohl projektgebunden Spenden aus der Pharmabranche, zum Beispiel für die „Erlebniswoche für Typ 1 Kinder“ oder das Bewegungsprogramm „Moby Dick“, als auch Förderungen vom Bundesministerium für Gesundheit zur Durchführung von Patiententagen.

Inzwischen freuen wir uns auch über viele Sachspenden, die unsere öffentlichkeitswirksamen Aktionen wie einen Präventionslauf von Leipzig nach Berlin erst ermöglichen. Wichtig für uns als unabhängige Organisation ist, jede Spende transparent zu machen.

Wie unterstützt diabetesDE die betroffenen Patienten und setzt sich für ihre Belange ein – auch vor Ort?
Mit unserem Konzept gehen wir neue Wege und wenden moderne Kommunikationsmittel an, deshalb finden besonders junge und jung gebliebene Menschen zu uns. Wir verfügen derzeit noch nicht über ein enges Netz an Selbsthilfegruppen, haben aber einen stetigen Zuwachs an Mitgliederzahlen. diabetesDE hat eine sehr informative Homepage – eine wahre Fundgrube. Hier finden Sie alles zum Thema Diabetes, vom Grillrezept bis zum Diabeteslexikon, von Vorschlägen zur Gestaltung eines aktiven Alltags bis zum TV-Tipp und einem Diabetesdolmetscher, vom Hypoglykämietagebuch zum Herunterladen bis zur fachärztlichen Stellungnahme zu einem bestimmten Insulinpräparat.

Hier werden regelmäßige Experten-Chats zu Schwerpunktthemen rund um den Diabetes angeboten, es gibt ein 24-Stunden-Beratungstelefon und einen Newsletter. Nach Postleitzahlbereichen können Interessierte eine wohnortnahe Selbsthilfegruppe ausfindig machen. diabetesDE hat kürzlich auch einen Leitfaden zur Gründung einer eigenen Selbsthilfegruppe herausgegeben. Mitglieder von diabetesDE haben die Möglichkeit, eine Rechtsberatung bei einem spezialisierten Anwalt in Anspruch zu nehmen, sie erhalten das Diabetes-Journal inklusive Diabetes-Eltern-Journal zu vergünstigten Preisen und sie bekommen Rabatt auf unsere TUI-Reisen, die von einer Diabetesberaterin begleitet werden.

Für die Belange unserer Patienten gehen wir auch auf die Straße oder sammeln Unterschriften für Petitionen. Im letzten Jahr haben wir einen zweisprachigen deutsch-türkischen Diabetespass herausgegeben. Je nach Kapazität ist diabetesDE auch auf Diabetikertagen vertreten und hat stets ein offenes Ohr für die Bedürfnisse der Betroffenen.

Stichwort Nationaler Diabetesplan – worum geht es hier?
Es gibt schon lange Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der EU an die Regierungen der Mitgliedstaaten, „Nationale Diabetespläne“ zu entwickeln und umzusetzen, zum Beispiel die 2006 verabschiedete UN-Resolution „Unite for diabetes“ oder die EU-„Declaration of diabetes“. Deutschland hinkt hier vielen Ländern hinterher, die einen solchen Plan bereits umgesetzt haben, wie Finnland, Dänemark, Holland, Polen, Spanien etc.

In einen nationalen Diabetesplan sollten alle Organisationen, Institutionen und Verbände eingebunden sein, die für die Prävention, Versorgung und Forschung dieses Krankheitsbildes verantwortlich sind. Die Politik, also der Bundesminister für Gesundheit, muss hier die Federführung übernehmen, um einen solchen Prozess der verbesserten Koordination und Kooperation aller Beteiligten zu initiieren. Wir brauchen eine bessere Aufklärung über die Ursachen und Therapien des Diabetes mellitus, mehr Möglichkeiten, den Ausbruch der Erkrankung zu verhindern, eine frühere Diagnose, bessere Therapieoptionen um Folgekrankheiten zu verhindern, die Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit Diabetes und ihren Angehörigen und einen Abbau von Diskriminierung durch Diabetes und seine Folgen.

An den Disease-Management-Programmen haben bislang nur circa die Hälfte der Patienten teilgenommen. Es fehlen vor allem epidemiologische und klinische Diabetesregister, die Daten für die Versorgungsforschung liefern und Schnittstellenlösungen, die sektorenübergreifende Behandlungen ermöglichen. Ein ungelöstes Problem ist nach wie vor die erschreckende Zahl der Neuerkrankungen: Pro Jahr nimmt die Zahl der Neudiagnostizierten um circa 300 000 zu. Die Gesundheitsförderung wird daher immer wichtiger und muss in einem Nationalen Diabetesplan angemessen berücksichtigt werden.

Was erwarten Sie von der Politik?
Wir erwarten, dass sie die Augen vor den sich aufdrängenden Problemen nicht verschließt und dass sie selbst eingegangene Verpflichtungen einlöst. Am 20. September hat auch Deutschland die Politische Deklaration der Vereinten Nationen anlässlich des ersten UN-Gipfels zu den nichtübertragbaren Krankheiten (Herz-Kreislauf-Krankheiten, Krebs, Diabetes und chronische Lungenkrankheiten) in New York unterzeichnet.

Hier verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten, bis 2013 Nationale Pläne für die Prävention und Kontrolle dieser wichtigsten Volkskrankheiten zu fördern, zu etablieren oder zu unterstützten und zu stärken. Wir erwarten daher, dass ein Nationaler Diabetesplan in Kürze etabliert wird. Ein Basispapier, das den Handlungsbedarf aufzeigt, haben wir gerade finalisiert.

WER STECKT DAHINTER?
diabetesDE ist eine gemeinnützige und unabhängige Gesamtorganisation mit derzeit über 12 000 Mitgliedern. Dazu gehören einerseits Menschen mit Diabetes, Angehörige und Interessierte, andererseits Wissenschaftler und Diabetologen, die gleichzeitig Mitglied der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) sind sowie Diabetesberater/innen des Verbandes der Diabetes-Beratungs- und Schulungsberufe in Deutschland (VDBD).

Hat sich die Versorgungslage von Diabetikern in den letzten Jahren eher verschlechtert?
Teils-teils. Es gibt Verbesserungen, aber es gibt auch Anzeichen für Verschlechterungen und in bestimmten Bereichen wachsenden Handlungsbedarf. Unbestritten hat es in den letzten Jahren große Fortschritte bei der Diagnostik und Therapie von Menschen mit Diabetes gegeben. Beispiele hierfür sind innovative Arzneimittel und Diagnostika, wie auch strukturierte Verbesserungen der Versorgungsqualität etwa durch die Einführung von Strukturverträgen und Disease-Management-Programmen.

Schwerwiegende gesundheitliche Ereignisse wie Amputationen, Erblindungen, terminale Niereninsuffizienz mit Nierenersatztherapie, Schlaganfälle, Herzinfarkte und Schwangerschaftskomplikationen treten in den letzten Jahren – im Verhältnis zur Krankheitshäufigkeit – seltener auf, obgleich die Anzahl noch deutlich höher liegt als bei Menschen ohne Diabetes. Auch die nationale Forschung hat in den letzten Jahren durch die Etablierung des „Kompetenznetz Diabetes“ und des „Kompetenznetz Adipositas“ und auch durch die Gründung des „Deutschen Zentrums für Diabe tesforschung e.V.“ durch das Bundesforschungsministerium (BMBF) weitere Impulse bekommen.

Sorgen macht uns, dass die Behandlung des Diabetes und der Folgekomplikationen bald ohne Leistungsbegrenzungen und Qualitätseinbußen schon nicht mehr finanzierbar sein wird. Ab Oktober werden die Teststreifen für Harn- und Blutzuckermessung für nichtinsulinpflichtige Typ-2-Diabetiker nicht mehr von den Krankenkassen bezahlt – nur in beschriebenen Ausnahmefällen. Wir halten das für ein fatales Signal, denn damit haben die Betroffenen keinerlei Möglichkeit mehr festzustellen, wie sich ihr Lebensstil auf ihre Blutzuckerwerte auswirkt. Damit werden Patienten entmutigt, eigene Verantwortung für das Management ihrer Erkrankung zu übernehmen – das widerspricht allen Grundsätzen eines modernen Therapieansatzes, in dem Arzt und Patient partnerschaftlich das Therapiemanagement übernehmen.

Im Sommer 2011 wurde vom IQWiG (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen) die „normnahe“ Blutzuckereinstellung in Frage gestellt. Angeblich führe eine solche Diabetestherapie bei keinem wichtigen Therapieziel zu einer Verbesserung im Vergleich zum unbehandelten Diabetes. Dabei ist das Wichtigste einer Therapie das sichere Erreichen eines individuellen Ziels unter Vermeidung von Nebenwirkungen, vor allem Unterzuckerungen und Gewichtszunahmen.

Und es gibt eindeutige Hinweise darauf, dass ein unbehandelter Diabetes schneller und zu mehr Folgeerkrankungen führt: Gerade haben die Vereinten Nationen einen UN-Gipfel zu den wichtigsten „nichtübertragbaren“ Krankheiten einberufen, darunter auch Diabetes, und fordern mehr Engagement der Regierungen aller Länder im Kampf gegen diese chronische Erkrankungen. Die Stärkung der Rolle und Verantwortung der Patienten ist daher ein weiteres wichtiges Handlungsfeld für eine notwendige Verbesserung der Versorgungssituation, da der Betroffene im Rahmen der Therapie eine bedeutsame Aufgabe einnehmen muss.

Noch immer ist die Lebensqualität von Menschen mit Diabetes reduziert, psychische Erkrankungen wie Depressionen treten im Zusammenhang mit Diabetes etwa doppelt so häufig auf wie in der Normalbevölkerung und die Diskriminierung ist hoch: In der Öffentlichkeit wird häufig dem Patienten selbst die Schuld an der Diabeteserkrankung gegeben, da sie fälschlicherweise ausschließlich auf Verhalten und Lebensstil des Betroffenen zurückgeführt wird.

Wie können Apotheken Diabetiker unterstützen?
Menschen mit chronischen Erkrankungen suchen Apotheken häufiger auf, oft in der Nähe ihres Wohnortes. Deshalb bietet sich hier die Gelegenheit, über die Krankheit und ihre Bewältigung ins Gespräch mit Betroffenen und Angehörigen zu kommen und sich mit der Zeit vielleicht sogar besser kennenzulernen. Hier kann sich die Gelegenheit bieten, Patienten mit Zusatzinformationen zu versorgen, zum Beispiel über Vor- und Nachteile verschiedener Messsysteme oder die verordneten Präparate, oder auch in schriftlicher Form Informationen zur gesunden Lebensführung weiterzugeben.

Viele Apotheken bieten auch besondere Dienstleistungen an, beispielsweise die Bestimmung von Körpergewicht und Body-Mass-Index; manche bieten selbst kleine Programme zur Gewichtssenkung und -stabilisierung an oder kooperieren mit externen Ernährungsberatern. Die Teilnahme an örtlichen Gesundheitsmessen, Vorträge zu Gesundheitsthemen, auch bei anderen Anbietern von Gesundheitsdienstleistungen – denkbar ist vieles. Eine gute Vernetzung mit lokalen Angeboten im Bereich Gesundheitsförderung ist immer eine gute Wahl und sorgt nebenbei auch für Mundpropaganda.

Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 10/11 ab Seite 126.

Das Interview führte Dr. Petra Kreuter, Redaktion

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